Die Demokratie hat viele Gegner unter den Deutschen im Jahr 1918: Da gibt es die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP), das konservativ-monarchistische Lager. Dann die Deutsche Volkspartei (DVP), rechtsliberal. Und später, 1919, die DAP (Deutsche Arbeiterpartei), die sich 1920 in die NSDAP umbenennen wird. Was wäre geworden, hätten diese rechten, teils rechtsextremen Parteien die Mehrheit im Parlament gehabt? Sie hätten vermutlich sofort die Demokratie gekippt.
Ich möchte hier einen Salto in die heutige Zeit vollführen. In Thüringen ist 2024 ein neuer Landtag gewählt worden, in dem die meisten Sitze von der rechten, in Teilen rechtsextremen Partei AfD eingenommen wurde. In seiner ersten, konstituierenden Sitzung hat die AfD sämtliche Regularien zur Wahl eines Landtagspräsidenten zum Platzen gebracht. So dass die zweitstärkste Partei, die CDU, das Verfassungsgericht angerufen hat. Erst der Landesverfassungsgerichtshof konnte die Regeln wiederherstellen, denen auch die AfD Folge leisten muss.
Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von September 2023 haben acht Prozent der befragten Deutschen eine klar rechtsextreme Haltung. Mehr als sechs Prozent befürworten eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland. Es sind nicht nur die Ränder der Gesellschaft, es sind auch Teile der Mitte der Gesellschaft, die sich von der Demokratie distanzieren, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern. Ein Drittel der Bevölkerung hier wünscht sich eine Diktatur, das belegt eine Studie der Uni Leipzig vom Sommer 2023. Dieses Drittel hat offen rechtsextremes Gedankengut, ist antisemitisch und fremdenfeindlich.
Genau wie vor 100 Jahren spielt dabei im Osten Deutschlands eine Rolle, dass die Deutschen zuvor jahrzehntelang autoritär regiert worden waren. Der große Unterschied ist, dass 1918 ganz andere Bevölkerungsschichten eindeutig antidemokratisch gesinnt sind: Nämlich diejenigen, die im alten System das Sagen hatten. Sie fühlen sich ihrer Macht beraubt und wehren sich gegen das neue System. Dazu gehören der Adel, das Militär und das Beamtentum. Alle drei Systeme, denen Detel angehört. Die alte adelige Väter-Generation ist komplett gegen die Weimarer Demokratie. Ihre Welt ist im Untergang begriffen, mit der Weimarer Verfassung wird der Adel als eigener Stand mit Titeln und Privilegien abgeschafft. Das „von“ ist Teil des bürgerlichen Namens und darf behalten werden, mehr nicht. Das wird niemandem aus dem ganzen Dunstkreis der Familie gefallen haben. Auch der erst 32 Jahre junge Detel ist stockkonservativ, er ist antidemokratisch und hasst den Kommunismus. Er mag keine Arbeiter und sieht in jedem einen Kommunisten. Abgesehen davon, dass er nach diesem verlorenen Krieg sehr enttäuscht ist, dass sein Einsatz in den letzten vier Jahren weder Sieg noch Macht gebracht hat – nicht fürs Vaterland und nicht für ihn selbst.
Im Januar 1919 beginnt Detel in der Kommunalverwaltung zu arbeiten, erst in der Kreisstadt Güstrow südlich von Rostock, dann in Grevesmühlen, ein Stück weiter gen Westen. Er betreut das Polizeireferat und einige andere Abteilungen.
Wie allen Deutschen macht ihm die Umsetzung des Versailler Vertrages zu schaffen. Vor allem der „Kriegsschuldartikel“ 231. Darin steht, dass Deutschland allein die Verantwortung für diesen Krieg habe, dass es den Alliierten den Krieg „aufgezwungen“ habe und für „alle Verluste und alle Schäden“ aufkommen müsse. Bis zuletzt waren die Deutschen dank einer permanenten Propaganda überzeugt, dass dieser Krieg ein reiner Verteidigungskrieg sei, der nur mit einem großen Sieg enden konnte, und der würde die Vormachtstellung Deutschlands in Europa endgültig sichern bzw. gleich zur Weltherrschaft führen.
Mit diesem Friedensvertrag trete, schreibt Detel, alles andere „in den Hintergrund vor der namenlosen Schmach und Schande, die uns tagtäglich unsere äußeren Feinde mit einer unglaublichen Brutalität antun.“
Im Juni 1919 unterzeichnen die Deutschen unter Protest diesen Friedensvertrag.
Darin steht unter anderem, dass die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben wird, das Heer auf hunderttausend Mann und die Marine auf 15.000 reduziert werden. U-Boote, Luftwaffe und schwere Waffen sind verboten. Eine internationale Militär-Kontrollkommission überwacht die Einhaltung der Bestimmungen. Außerdem soll Deutschland umfassende Reparationen leisten, die genaue Höhe ist im Vertrag aber noch nicht geregelt. So. Und genau das wird Detels Aufgabe der nächsten Jahre. Er wird bei den zähen Verhandlungen um die Anzahl an Milchkühen, Goldmark und Telegrafenmasten dabei sein und davon einiges zu berichten haben, ganz frisch aus Paris.
Zweieinhalb Jahre lang ist Detel insgesamt in Paris. Zwischendurch fährt er ab und an nach Berlin, um sich dort mit den Fachleuten der Ministerien auszutauschen. Gerne ist er nicht dort. „Es ist aber ganz gut, von Zeit zu Zeit einmal nach Berlin zu kommen. 1. um nicht die große Not der Heimat zu vergessen, die einem dort auf Schritt und Tritt begegnet, und 2. um die Mentalität der Leute kennen zu lernen, von denen man seine Anweisungen empfängt. Der Nimbus, der das geschriebene Wort der vorgesetzten Behörden umgibt, verfliegt oft bei persönlicher Bekanntschaft.“
Die Haltung der Deutschen zu jedweder Art von Reparationsfragen ist genau wie die zum Versailler Vertrag im Ganzen: ein großes deutliches „Nein!“ Und so lautet denn auch der Auftrag der Regierung bzw. des Reichsfinanzministeriums an Detel und alle anderen deutschen Verhandler in Paris: Erstmal alles abwiegeln. Allerdings: „Trumpfte dann die Gegenseite auf, so war Berlin meistens nach kurzer Debatte bereit, der sogenannten Gewalt zu weichen. Man tröstete sich damit, dass die Unterzeichnung doch nur eine Formalität sei – jeder Vernünftige wisse, dass der Vertrag nicht ausführbar wäre. Die Durchführung würde schon in vernünftige Bahnen gebracht, wenn man mit den Alliierten nur erst einmal am Verhandlungstisch zusammensitze.“
Die deutschen Verhandler können es nur falsch machen, das lernt Detel am schnellsten. Und es ist viel komplizierter als das bloße Verhandeln über Liefermengen. „Wir hatten nach dem Friedensvertrag eine große Menge Milchvieh in natura an Frankreich abzuliefern. Man schickte uns eine ganze Kommission von Sachverständigen, die der Reparationskommission beweisen sollten, dass diese Lieferungen nicht möglich seien. Ich sehe noch den berühmten Kinderarzt Professor Czerny aus Heidelberg, wie er im Hotel Astoria stand und den Feinden ein schauerliches Bild entwarf von den Folgen, die die Entziehung solcher Mengen Milchviehs auf die Volksgesundheit und auf die Säuglingssterblichkeit haben müsse, er sprach – das weiß ich noch genau – von den verdorrenden Mutterbrüsten in Deutschland und er machte gewissen Eindruck. Dann gelang es der Geschicklichkeit des Staatssekretärs Bergmann in den nächsten Tagen unter der Hand ein Abkommen mit der Gegenseite vorzubereiten, wonach die gesamten Viehlieferungs-Bestimmungen des Vertrages durch die Zahlung einer sehr geringen Geldsumme auf das Reparationskonto – also eine Zahlung, die wir schon damals nicht sehr ernst nahmen – abgelöst werden sollte. Und die Folge: 4 Tage später erschienen 2 Abgesandte des preußischen Landwirtschaftsministeriums, um allen Ernstes zu erklären, sie würden von den deutschen Landwirten einfach umgebracht, wenn jetzt plötzlich die schönen Viehlieferungen nach Frankreich aufhörten, die so viel Geld brächten!“
Auch an anderer Stelle mokiert sich Detel über den Dissens zwischen den verschiedenen deutschen Parteien, vor allem zwischen der Kriegslastenkommission und der großen Politik. Während die deutschen Verhandler in Paris ständig klarzumachen versuchen, dass die verlangten Summen nicht leistbar sind, tritt der neue Reichskanzler Wirth ans Rednerpult und verkündet, dass es Deutschland durchaus möglich sei, die geforderten Milliarden aufzubringen.
Als Ausgleich zur schwierigen Arbeit versucht es sich Detel in Paris so nett wie möglich zu machen. Auf der Straße und in den Restaurants kann er sich frei und ungeniert bewegen, „sofern man sich selbst manierlich benahm. Man musste nur gewisse Dinge vermeiden, die in Paris jeden sofort als Deutschen erkennen lassen, zum Beispiel, dass man vom Kellner in dem Restaurant, in dem man zu 6 Männern am Tisch sitzt, verlangt, dass er 6 verschiedene Rechnungen bringt und dann womöglich noch lange daran herum rechnet und schließlich Abänderung verlangt, weil 1,25 Fr. versehentlich mir angeschrieben sind, die eigentlich auf die Rechnung meines Tischnachbarn gehören.“ Tja, gewisse nationale Charakteristika haben offenbar Bestand. „Kam man irgendwo mit Franzosen ins Gespräch, so machten wir uns öfters das Vergnügen, sie raten zu lassen, welcher Nationalität wir angehörten. Das Ergebnis war stets das gleiche: sie rieten alle Nationalitäten der Erde durch, aber sie waren zu feige oder zu höflich, uns etwa ins Gesicht zu sagen, dass sie uns für Deutsche hielten. Ein Mädchen englischer Herkunft in einem Montmartrelokal, dem ich gesagt hatte, ich sei Deutscher, erklärte kurzentschlossen: „Show me your feet!“ Und als sie meinen leidlich anständigen Maßschuh sah, meinte sie, es sei völlig ausgeschlossen, dass ein Deutscher solche Schuhe trüge. (Und auch das hat sich nicht wesentlich geändert.) Im selben Lokal nachts dicht gedrängt, während alles auf die Mäntel wartet: ein stark betrunkener französischer Offizier schreit plötzlich los: „Il ya des boches ici! Ou sont ils? Il faut les tuer, les boches!“ (Hier gibt es Deutsche, wo sind sie? Tötet sie, die Boches!) Es war nicht sehr angenehm, aber wir sahen uns mit den anderen wütend nach den Boches um, und als niemand sie entdecken konnte, beruhigte sich alles schnell wieder.“
Im März 1921 steht auf Seiten der Alliierten schließlich so etwas wie ein Zahlungsplan für die Deutschen: Sie sollen 226 Milliarden Goldmark zahlen, in steigenden jährlichen Raten, und das 42 Jahre lang. Außerdem sollen sie von jedem Export eine Abgabe von 12,5 Prozent leisten. Sollten die Deutschen dem aus irgendwelchen Gründen nicht nachkommen, würden die Alliierten Düsseldorf und Duisburg besetzen und 50 Prozent Exportabgabe verlangen.
Es wird wieder hart miteinander gerungen und verhandelt. Einen Monat später wird Detel abends 8 Uhr von der Reparationskommission angerufen und sofort zu einer Sitzung gebeten. Zwei Stunden lässt man ihn warten. „Als ich erschien, war die gesamte Entente vollzählig versammelt. Vertreter von mindestens 24 Staaten, dazu eine Menge kleiner Leute, Sekretäre usw. Alles erhob sich, als der Angeklagte den Saal betrat. Dubois (Vertreter Frankreichs und Präsident der Kommission) blieb gleich stehen, um mit seiner Ansprache zu beginnen. Er teilte in seiner unendlich trockenen Art mit, die Reparationskommission habe aufgrund der Verhandlungen der letzten Wochen die Reparationszahlungen Deutschlands nunmehr auf 132 Milliarden GM festgesetzt.“
132 Milliarden Goldmark. Das entspricht ungefähr dem Wert von 700 Milliarden Euro.
In einem Brief an den Vater meint Detel: „Eine höhere Zahlung ist wohl noch nie in der Weltgeschichte einem Menschen präsentiert worden. Ein trauriger Ruhm, auf den ich gern verzichten würde.“
Es ist einer seiner letzten Briefe an den Vater, denn Fortunatus stirbt an einem plötzlichen Herzinfarkt Ende 1922. Er kehrt von einem Spaziergang nach Hause zurück und kippt vor der Haustür einfach um. Der Arzt kann nur noch den Tod feststellen. Detel ist da gerade zusammen mit den Geschwistern in Roggow. Die folgenden Tage sind angefüllt mit Abschiednehmen und Organisieren.
Zurück in Paris droht neuer Ärger, wir schreiben inzwischen das Jahr 1923: Wegen Unstimmigkeiten in der Frage der Kohlenlieferungen Deutschlands platzt dem französischen Ministerpräsidenten Poincarè endgültig der Kragen. Was er schon ein halbes Jahr vorher angedroht hatte, geschieht: Dass Frankreich seinen Anspruch auch mit einer militärischen Intervention umsetzen würde.
„11.1. Die Franzosen marschieren ins Ruhrgebiet ein.“
60.000 französische und belgische Soldaten besetzen das Ruhrgebiet, mit Pferden, Wagen, Panzern und Kanonen. Sie sollen sicherstellen, dass auch genug Kohle produziert und nach Frankreich abtransportiert wird. Bei den Menschen im Revier folgt auf anfängliche Neugier gegenüber den Besatzern blanker Hass. Auch die Regierung ist empört. Reichskanzler Cuno ruft zum passiven Widerstand auf.
„Die deutsche Regierung verbietet den Bergwerksbesitzern im Ruhrgebiet, Reparationskohlen zu liefern. Die Besatzungsbehörde erklärt dieses Verbot für unwirksam. Jetzt geht’s auf Hauen und Stechen. Gottlob, endlich!!“
Arbeiter, Angestellte und Unternehmensleiter begeben sich in einen unbefristeten Arbeitskampf. Und auch bei den Bergbauern lautet die Parole: Keine Arbeit unter französischen Bajonetten!
Detel wird aus Berlin abgezogen, seine Aufgabe ist es nun, für das Finanzministerium ins Ruhrgebiet und ins Rheinland zu fahren und Bericht zu erstatten über die finanzielle Lage vor Ort. Das heißt konkret: Wie ist die Versorgung der Bevölkerung, wie geht es der Wirtschaft, wo gibt es Mangel, und vor allem, wie kann der Arbeitskampf finanziert werden? Wenn Tausende Arbeiter die Arbeit verweigern, so wie der Staat es ja will, wie können sie dann vom Staat unterstützt werden?
Der Ruhrkampf verschlingt Unsummen. Dutzende Fabriken und Druckereien sind mit nichts Anderem beschäftigt als dem Drucken von Banknoten. Eine Folge ist die Hyperinflation, der völlige Verfall des Geldwerts. Die Menschen verkaufen in der Not ihr Haus und bekommen für das Geld einen Laib Brot. Den Tageslohn auf der Arbeit nehmen sie erst in einer Tasche, später in einer Schubkarre mit und rennen damit zum nächsten Lebensmittelgeschäft, um schneller zu sein als der Geldverfall.
„Ich sehe mit Sicherheit eine große Katastrophe kommen und möchte gerne, dass sie bald käme. Denn dieses Warten ist grauenhaft. Wir können meiner Überzeugung nach den Kampf in jetziger Form nur noch ganz kurze Zeit durchhalten.“
Im Ruhrgebiet rumort es gewaltig, in Detels Herz ebenso. Er trennt sich von einer unglücklichen Liebe. Und zerbricht sich nun den Kopf darüber, was er eigentlich will im Leben.
„Soll man jeder noch so radikalen Rechts- oder Linksregierung dienen? Lieber noch dem Diktator. Wenn der das Land mitzureißen versteht, ist es mir egal, ob er von rechts oder links kommt. Bis dahin haben wir aber rettungslos Parteiwirtschaft, und das ist aufs höchste demoralisierend. Man sieht es ja an der jetzigen Regierung. Es geschieht nichts, weil jede unangenehme Maßnahme durch den Widerstand irgendeiner Partei gehemmt und halbiert wird.“
Da steht es schwarz auf weiß: Detel befürwortet die Diktatur. Nicht so verwunderlich, angesichts seiner Monarchie-dienenden Herkunft, aber dennoch bemerkenswert und erschreckend antidemokratisch. Er hält nichts von der Debattenkultur der Demokratie – 100 Jahre später gibt es wieder viele Menschen in Deutschland, die genauso ticken. Das ständige Hin- und Her der vergangenen Ampel-Koalition, das Gezerre um Gesetze und Bestimmungen lässt viele sagen: Dann wäre es doch besser, wenn ein Diktator ein Machtwort spricht. Nein, ist es nicht, das wird die Detel bald bevorstehende Nazi-Diktatur zeigen.
Vicky
Dem Abschluss dieser dramatischen Lebensepisode meines Großvaters kann nur eine noch etwas draufsetzen: meine Großmutter. Sie ist der Fels im reißenden Gebirgsbach, auf dem sich Detel mit seinem schwankenden Nachen befindet, und der ihn das Ruder herumreißen lässt.
Detel lernt sie schon im Sommer 1923 bei Freunden kennen. Er trifft sie noch zwei weitere Male zufällig und ist von ihrer Leichtigkeit und Unbekümmertheit und von ihrem Temperament fasziniert. Sie muss ein gut gelaunter Wirbelwind gewesen sein, schlank, kurz geschnittene dunkelblonde Locken, hellblaue Augen. Sie sagt geradeaus, was sie denkt, natürlich bei allem wohlerzogen, Tochter aus gutem Hause, wenn auch ohne höhere Schulbildung, aber eben auch ohne Allüren.
Am ersten Tag des Jahres 1924 trifft Detel sie bei ihrem Stiefvater wieder, bei General von Boehn, wo er zum Tee eingeladen ist, und verliebt sich bis über beide Ohren in sie.
Victoria Luise Elisabeth von Blücher. Ihr Vater war sieben Monate nach ihrer Geburt gestorben, die Mutter Virginie geborene von Beaulieu-Marconnay hatte acht Jahre später neu geheiratet: jenen General Hans von Boehn. Der hatte sich am Hof des Kaisers um alle möglichen Feste zu kümmern, die Reisen der kaiserlichen Familie zu irgendwelchen Hochzeiten zu organisieren oder die Fahrt mit der Eisenbahn zur Beerdigung des Kaisers von China. Virginie war eine wunderschöne Frau, sie entstammte einer französischen bzw. hugenottischen Familie aus dem Poitou, die 1686 nach Celle in Deutschland ausgewandert war. Man muss sagen: geflohen war, nach der Aufhebung des Verdikts von Nantes, das den Protestanten im Land Religionsfreiheit zugesichert hatte. Sie sprach französisch genauso fließend wie deutsch. Den komplizierten Namen Virginie von Beaulieu-Marconnay konnte ihre Enkelin Maja als Kind nie richtig aussprechen, sie nannte sie deshalb: Wirsing-Kohl und Bouillon-Maggi-Suppe. Virginie war vor ihrer ersten Heirat – wie schon zuvor ihre Mutter – in Weimar Hofdame der Großherzogin Sophie, geborene Prinzessin der Niederlande, gewesen. Diese galt als eine strenge Bewahrerin der Hofetikette alter Zeit. Virginie hatte also geschliffene Umgangsformen und wurde überallhin eingeladen. Ich habe einen hingerissenen Bericht über sie als Blumenkönigin des Kölner Gürzenich gelesen – sie konnte vermutlich in leichtem Ton über Gott und die Welt parlieren und übertrug diese Gabe auch an ihre Tochter Victoria. Diese war acht, als ihre Mutter General von Boehn heiratete, als 39-jährige Witwe mit vier Kindern. Das muss man dem General hoch anrechnen zur damaligen Zeit. Zu den Kindern Josi (Josephine) und Amba (Johann-Albrecht) und dem Zwillingspaar Vicky und Lexchen (Alexandra) bekam das Ehepaar noch zwei weitere Kinder, Büdi (Hans-Joachim) und Wimmel. Tante Wimmel habe ich kennengelernt, wir haben sie sehr geliebt. Sie hieß eigentlich Wilhelmine – benannt nach dem Kaiser himself, der ihr Taufpate war.
Detel also beschließt, dass es nun an der Zeit ist, in die Heimat zurück zu kehren, um in Vickys Nähe zu sein. Als er ein Jobangebot in Rostock bekommt, greift er ohne Zögern zu. Es ist die Stelle des „Ritterschaftlichen Syndikus“ beim Mecklenburgischen Ritterschaftlichen Kreditverein – sprich: Rechtsanwalt bei einer Bank.
„Und nun war die Zeit für mich gekommen, dass ich mir das suchte, was meinem Leben noch fehlte: Liebe und Sonnenschein. Wo ich es finden konnte, das wusste ich. Ein Besuch bei meinem Freunde Vorbeck in Barendorf machte es mir möglich, Vicky Blücher am Strande ein Stündchen zu sehen und zu sprechen. Von da ab stand mein Entschluss fest. Am 31. Mai fuhr ich nach Pötenitz und an einem wundervollen Frühlingsmorgen habe ich ihr am Meeresstrand gesagt, dass ich sie lieb hätte und von ihr alles Glück der Erde erwartete. Am 1. Juni 1924 war Vicky Blücher meine Braut. Am 4. Juni erbat und erhielt ich in Berlin die Zustimmung ihrer Eltern und am 6. Juni feierten wir in Pötenitz gleichzeitig mit Brockens Silberhochzeit unsere Verlobung.“
Pötenitz, da lebt Tante Armgard von Brocken. Hier hat Vicky die vergangenen fünf Jahre gelebt. Sie hat eine Wirtschaftslehre gemacht, allerdings ohne großen Erfolg, wie ihre Kinder allen bescheinigten. Ihre Kochkünste müssen grauenhaft sein, aber wozu soll sie auch lernen, zu kochen? Ihr Leben ist voller Bediensteter, die alles für sie erledigen. Armgard von Brocken ist eng mit Vickys Eltern befreundet. Ihr Schloss im Klützer Winkel ist heute nur noch eine abrissreife Ruine, ein „lost place“. 1924 aber muss es dort wunderschön sein, die Ostsee ist nah, der Boden ist fruchtbar. In den Sommermonaten verbringt Detel nun jedes Wochenende dort, „mit unendlich viel Sonne innerlich und äußerlich“.
Die beiden lernen sich immer besser kennen und beschließen, zu heiraten: der 26.9. soll es sein.
Meine Großeltern waren zwei, die sich wirklich gefunden haben. Sie haben zusammen die schwierigen Zeiten des Nationalsozialismus und der sowjetischen Besatzung durchgestanden, haben sich bis zuletzt aus tiefstem Herzen geliebt und respektiert. Meine Großmutter hat zwar nie mehr irgendein haushalterisches Talent an den Tag gelegt, aber dafür etliche hungrige Mäuler irgendwie durch den Krieg gebracht, und immer wieder aufs Neue ein eisernes Durchhaltevermögen und einen erstaunlich kreativen Umgang mit scheinbar ausweglosen Situationen bewiesen. Sie war meinem Großvater eine enorme Stütze, und er für sie sowieso.