Stellungskrieg

Ihr grabt euch ein, der Stellungskrieg beginnt. 300 Meter, manchmal auch nur ein paar wenige Meter breit ist das Land, das zwischen euren Schützengräben und denen der Franzosen und Engländer liegt. Und so soll es bis 1917 bleiben.

File:Cheshire Regiment trench Somme 1916.jpg

A German trench occupied by British Soldiers near the Albert-Bapaume road at Ovillers-la-Boisselle, July 1916 during the Battle of the Somme. The men are from A Company, 11th Battalion, The Cheshire Regiment. Quelle: This is photograph Q 3990 from the collections of the Imperial War Museums. Urheber: John Warwick Brooke

Groß angelegte Offensiven bringen ein paar Kilometer Geländegewinn, das ist es auch schon. Oder, wie Erich Remarque in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ schreibt: „Doch das Stückchen zerwühlter Erde, in dem wir liegen, ist gehalten gegen die Übermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber auf jeden Meter kommt ein Toter.“ So deutlich wie Remarque wirst Du, Großvater, nirgends. Das, was auch Du gesehen und erlebt haben musst, verschweigst Du. Deshalb lasse ich Remarque erzählen: „Wir sehen Menschen leben, denen der Schädel fehlt; wir sehen Soldaten laufen, denen beide Füße zerfetzt sind; sie stolpern auf den splitternden Stümpfen bis zum nächsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei Kilometer weit auf den Händen und schleppt die zerschmetterten Knie hinter sich her; ein anderer geht zur Verbandsstelle, und über seine festhaltenden Hände quellen die Därme; wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne Gesicht; wir finden jemand, der mit den Zähnen zwei Stunden die Schlagader seines Armes klemmt, um nicht zu verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht kommt, die Granaten pfeifen, das Leben ist zu Ende.“ Und das alles für ein paar Meter Land. Warum schreibst Du so etwas nie? Ich finde dafür zwei Erklärungen: zum einen bist Du ein Pflichtmensch. Ein Preuße durch und durch. Du machst Deinen Job, Du machst ihn gut und gewissenhaft, egal ob Du am Schreibtisch sitzt oder mit dem Gewehr in der Hand kämpfst, und was selbstverständlich ist, darüber redet man nicht.

Und zum anderen, sagt Erich Maria Remarque, ist das Schreckliche nur zu ertragen, wenn man nicht darüber spricht. „Das Grauen lässt sich ertragen, solange man sich einfach duckt; aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt. (…) Es ist eine Gefahr für mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, dass sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewältigen lassen.“

Deutsche Soldaten auf Feld (Foto: Bundesarchiv Koblenz / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 DE)

Deutsche Soldaten auf Feld (Foto: Bundesarchiv Koblenz / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 DE)

Und genauso wenig Remarque zuhause seinen fragenden Eltern erzählt, so wenig erzählst auch Du in Deinen Briefen, und erzählst schon aus Selbstschutz lieber von dem, was positiv ist, etwa von der Kameradschaft: Es ist so nett, dass die nordischen Corps immer zusammenbleiben. Wo man geht und steht, trifft man gute Bekannte. (Ich stelle mir gerade vor, wie Du mitten im Kampfgetümmel jemanden triffst: Ach, Franz, du auch hier, Hups! Vorsicht! …)  Im allgemeinen Kameradschaftlichkeit. Es ist selbstverständlich, dass jemand, der noch zwei Zigarren hat, an den abgibt, der keine mehr hat. Oft ist es mir schon vorgekommen dass mir ein einfacher Soldat im Vorbeireiten plötzlich ein Stück Schokolade, eine Zigarre oder dergleichen in die Hand drückte. Die Infanten (Fußsoldaten) haben übrigens mit ihren Feldküchen uns gegenüber einen gewaltigen Vorteil. Aber man gönnt es ihnen gern. Denn sie müssen doch im Allgemeinen die härteste und blutigste Arbeit machen.

Du und Deine Kameraden, ihr kommt abends um 21, 22 Uhr ins Lager, müsst erst eure Pferde versorgen, bevor ihr euch ans Fleisch schlachten, Kartoffel schälen und kochen macht. Um 1 Uhr nachts wird dann gegessen.

Was kann man seinem Vater noch so schreiben aus dem Krieg? Klatsch von der Front: Den Großherzog sprach ich neulich einen Augenblick. Er sah sehr wohl und fabelhaft gut gewaschen aus.

Eisernes Kreuz I. Klasse 1914. „Ek23f“ von Ironcross – Eigenes Werk. Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ek23f.JPG#mediaviewer/Datei:Ek23f.JPG

Zu Deinem Geburtstag am 24. September erhältst Du das erhoffte Eiserne Kreuz. Das erste von einer ganzen Reihe an Kreuzen. Mindestens ebenso wichtig scheint Dir das Essen zu sein, das Du an Deinem Geburtstag in Dich hinein stopfst: Obst, Sardinen und Butterbrot, gebackenen Schinken mit Maronen, Rindfleisch und Kartoffeln mit Bouillon, Grünkohl, Käse. Ein Unteroffizier ist Küchenchef und die ganzen Leute hier im Dorf reißen sich den Baum aus, um uns alles so schön und bequem zu machen wie möglich. Es ist überhaupt merkwürdig, wie freundlich das Volk ist. Anders als die Belgier. Alles sehnt den Frieden herbei. Ist das der Beginn Deiner Liebe zu Frankreich? Zur französischen Kultur? Dir imponiert, dass die Franzosen sich nichts von euch nehmen lassen wollen, dass sie ihr Land verteidigen gegen die respektlosen Deutschen. Aber zum Glück fließt der Champagner ja in Strömen, jedes weitere Nachdenken verflüssigt sich da wie von selbst. Zu Deiner Geburtstagsfeier kommen sämtliche Kommandeure und Majore, usw., wo viel gesungen, getrunken und politisiert wurde. Unser Trompeter hat sich ein Kissen requiriert (beschlagnahmt) und wir konnten unter den Klängen des Hohenfriedbergers zu Tisch gehen. Dieser Militär-Marsch scheint Dein Lieblingshit zu sein. Du wirst ihn noch einige Male mit Begeisterung erwähnen. Zu Deiner Zeit ist es eben auch schon so, dass Musik die Gemüter bewegt, das Tun beflügelt. Ich habe schon bei einigen Männern Tränen in die Augen steigen sehen, wenn Trompeter einen  Marsch spielen. Es scheint etwas auszulösen, was ich kaum nachvollziehen kann. Stolz? Ehrfurcht? Erhabenheit? Bei mir löst es eher den Wunsch aus, schnell abzuhauen. Es sei denn, die Trompeten sind mit einem ordentlichen Beat unterlegt. Für Dich war der Hohenfriedberger Marsch aber mehr: ein Stück Geschichte Deines Regiments. Denn das Kürassier-Regiment „Königin“, benannt nach Luise Königin von Preußen, hatte 1745 große Erfolge bei der Schlacht von Hohenfriedberg eingeheimst. Diese Erfolge zeigen die Soldaten auch 169 Jahre nach der Schlacht noch stolz her, durch ein Band auf dem Helm, das die Inschrift: „Hohenfriedberg 7. Juni 1745“ trägt. Es sei an dieser Stelle ein wenig bissig vermerkt, dass das Regiment offensichtlich wegen Alkoholexzessen vom König ermahnt worden war. Aber das ist ja jetzt schon lange her.

Du jedenfalls ahnst, dass dieses Hochgefühl, das Du im Krieg auf dem Schlachtfeld empfindest, in Friedenszeiten eher seltener kommen wird. Weil die Erregungskurve einfach wieder flacher werden wird. Ich glaube, es wird uns allen schwer werden, uns in Friedenszeiten wieder an den vielen Kleinlichkeiten des täglichen Lebens und Dienstes zu gewöhnen. Eigentlich lebt man nirgends so feudal wie ein König. Man hat rasende Strapazen zu erleiden und man hat stündlich mit einem plötzlichen Tod dauernd zu rechnen. Das sind Sachen, mit denen man sich so gut es geht abfindet. Im übrigen tut man, was einem befohlen wird und lässt einen jeglichen Tag für das seine sorgen. Und wenn einer nicht so will wie man will, so sagt man ihm, man würde ihn sofort tot schießen. Das ist roh und in Friedenszeiten ungewöhnlich, aber durchaus wirksam. Besonders wenn man das erforderliche Instrument in der Hand hat.

Hast Du Angst vor dem Tod, Detel? Ich glaube schon. Aber ich denke auch, dass Du von einer großen Zuversicht erfüllt bist, dass alles seine Richtigkeit hat, der Krieg, das Leben und eben auch der Tod. Und deshalb: bloß keinen großen Wind machen, und erst recht keine Sorgen, Leute. Es hat doch so wenig Zweck. Wenn man fallen soll, so kann einen eine versprengte Kugel, die einem anderen zugedacht war, erreichen, und wenn man nicht fallen soll, so kommt man immer aus dem wüstesten Granatfeuer heil heraus.  

Gräber gefallener Soldaten des Ersten Weltkriegs. Grafvelden. Urheber: „Romagne-sous-Montfaucon – crosses“ von Original uploader was Duhjeroen at nl.wikipedia – Originally from nl.wikipedia; description page is/was here.. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Romagne-sous-Montfaucon_-_crosses.jpg#mediaviewer/Datei:Romagne-sous-Montfaucon_-_crosses.jpg

Vielleicht ist es auch dieses: der Krieg ist groß, groß wie Gott. Groß wie das Schicksal. Und ich bin nur ein kleiner Wurm. Der sich fügt, weil er es muss, weil der große Gott Krieg es von mir verlangt. Er kam, weil er eben kommen musste. Und hat mich mitgenommen mit hartem Griff. Alle anderen machen auch mit, es muss also schon irgendwie richtig sein, schrecklich, aber richtig. Es ist sehr traurig, wie furchtbar viele Opfer dieser Krieg schon auch unter unseren guten Bekannten gefordert hat. Die Nachricht lässt einen hier allerdings merkwürdig kühl. Wohl, weil man sich schon an das Selbstverständliche der dauernden Todesgefahr gewöhnt hat. Hans Bülow wird seit einigen Tagen vermisst. Er war auf Patrouille und ist nicht heimgekehrt. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. .. Neulich zeigte mir eine Mutter den Tod ihres Mannes und ihres Sohnes an, beim selben Regiment. Und doch, wie großartig ist es, und wie dankbar kann man sein, dass man diese gewaltige Zeit miterleben darf (…) Möge es glänzend zu Ende geführt werden.

Amen.

Im Oktober kommst Du mit Deiner Truppe nach Billy-Montigny im Norden von Paris und wirst für eine Weile dazu verpflichtet, Mensch und Tier mit Futter zu versorgen. Ein undankbarer Posten. Man fährt die ganze Nacht durch zu den Truppen und muss bei Tage in den Etappen wieder auffüllen.

Hunderte von Wagen musst Du jede Nacht begleiten. Durch feindliche Dörfer hindurch, deren Häuser oftmals zu Festungen umgebaut sind, die mit dem Bajonett genommen werden müssen. Man kann nur hoffen, dass sich in den Häusern „nur“ feindliche Soldaten aufgehalten haben. Oder muss ich jetzt annehmen, dass mein Großvater zum Mörder unschuldiger Zivilisten wird? Du lässt es im Dunkeln. Schreibst lieber von den bayrischen Kampfbrüdern,  mit einer Mischung aus Ekel und Bewunderung. Sie sind vor euch, den „Preußen“, da gewesen und haben mindestens unordiniert verwüstet. Einen Verwundeten von uns, der neulich einem Franzosen sagte, es wäre doch unglaublich, dass sie mit den Afrikanern Schulter an Schulter kämpften, antwortete jener: ihr macht es ja auch nicht besser. Ihr kämpft ja mit den Bayern zusammen! Die Kerls gehen aber drauf wie die Löwen. Und kennen kein Zurück. Vor dem Sturm ziehen sie sich die Röcke aus und streifen sich die Hemdsärmel auf. Dann sind sie bereit zum Gemetzel.

Was ich daran am erstaunlichsten finde, ist die Tatsache, dass tatsächlich Afrikaner an der Seite der Franzosen kämpfen. Das war mir nicht präsent gewesen. Ich lese bei Gregory Martin (http://www.zmo.de/publikationen/studien13.pdf), dass die Franzosen und auch die Briten massenhaft junge Männer aus ihren Koloniestaaten rekrutiert haben, aus Indien, Nord- und Westafrika. Algerier kämpfen an der Seite der Franzosen, und Inder für die Briten. „Senegalesen“ nennen die Franzosen schwarze Soldaten allgemein. Tausende junge Männer, die keine Ahnung vom Kriegführen haben, die nur eine minimale Kampf-Ausbildung bekommen haben, die unter dem kalten Klima des Nordens leiden und regelrechtes Schlachtenfutter sind. Und das auch noch, ohne in der französischen oder britischen Bevölkerung dafür anerkannt zu werden. Sie halten den Kopf für dieses Volk hin, und werden dafür auch noch aus rassischen Gründen abgelehnt und verachtet. Dieses massenhafte Erscheinen von Hunderttausenden von Afrikanern und Asiaten in Europa ist einzigartig, erstmalig. Der Erste Weltkrieg soll den Startschuss für die Zeit der Migrationsbewegung nach Europa geben. Damals muss es auf die Europäer wie ein Schock gewirkt haben.

Doch dass Franzosen wie Briten ihre Kolonial-Untertanen in Massen rekrutieren, zeigt, wie maximal die Mobilisierung der eigenen Ressourcen ist. Man setzt auf die Zermürbung des Feindes durch viele Soldaten, die viel schießen. Sprich: den Grabenkrieg. Ein Ungeheuer mit unersättlichem Hunger nach Menschenleben. Und Du bist mitten drin, Großvater. Und auch Du bist nicht vorbereitet auf diese Art Krieg.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Flandern_1917.jpg

„Flandern 1917“ von Hermann Rex /“Kriegs- Bild- und Filmamt. – „Photographisches Bild- und Film-Amt“, erstmalig veröffentlicht in: „Die Große Zeit. Illustrierte Kriegsgeschichte“. Zweiter Band. Berlin 1920. S. 345 (mit dort offensichtlich falscher Bildbeschreibung).. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flandern_1917.jpg#mediaviewer/Datei:Flandern_1917.jpg

Wir liegen jetzt schon oft tagelang in Schützengräben, können uns dort aber nicht so recht benehmen, da unsere infanteristische Ausbildung zu mangelhaft ist. Wenn der Feind mal uns (unleserlich – dem Sinn nach: in Ruhe lässt), steckt alles die Köpfe vor, stellt sich frei auf den Berg hinauf und guckt, bis die Schrapnells wieder kommen.

Zum Glück haben Dir die Tanten Ella und Li einen Magenstrumpf und einen Pulswärmer gestrickt, da kann ja nichts mehr passieren. Magenstrumpf – ich muss gestehen, ich dachte, meine Mutter hätte beim Übersetzen aus dem in  Sütterlin geschriebenen Brief etwas nicht verstanden und sich irgendwas ausgedacht. Bis mir Google das „Kolonial-Lexikon“ von 1920 servierte. Es gab ihn tatsächlich, den Magenstrumpf: Er war „zur Verhinderung von Erkältungen der Magengegend ein für die Tropen unbedingt erforderliches Ausrüstungsstück“. Na. Ferner aus Wolle, schlauchförmig, elastisch gestrickt, und: „zum Festhalten dienen entweder kreuzweise über die Schultern laufende weiße Gurtbänder von 2 1/2 cm Breite oder ein durch den oberen Rand der Beinbinde gezogenes Bindeband.“  Sexy. Also, wie war das? Beinbinde durch Bindeband… Egal. Zum Glück haben die Tanten auch Zigarren mitgeschickt, Rauchen hilft sicher gegen Juckreiz durch kratzige Wolle.

Was mich an der Sache aber wirklich erstaunt, ist, dass der Magenstrumpf auch angekommen ist – sprich, dass die Post im 1. Weltkrieg offenbar unglaublich gut funktioniert. Alle paar Tage bekommst Du Post. Briefe, Pakete. Rauchwerk, Schokolade, Hemden, Jacken, Strümpfe. 5 Tage reist ein Brief aus Deutschland nach Frankreich – heute braucht er länger. Dafür verlangt die Familie aber auch umgehend Bescheid, dass alles angekommen ist. Und ist offenbar höchst ungehalten, wenn eine Sendung nicht gleich mit vielen Ahs! und Ohs! quittiert wird. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich mich augenscheinlich für eure rührenden Sendungen nicht gebührend bedankt habe. Das war wirklich sehr gegen meine Absicht. Ich glaubte immer nach Möglichkeit den Empfang der Briefe und Sendungen mit Datumsangaben bestätigt zu haben. Aber immer ist das nicht möglich, denn oft heißt es: in 5 Minuten geht die Feldpost ab! und dann kritzelt man noch in aller Eile auf eine Feldpostkarte einen Gruß.

Großvater, ehrlich, ich finde es rührend, wie Du Dich offenbar in jeder freien Minute hinhockst und Deiner Familie schreibst! Die können doch nicht von einem Soldaten an der Front erwarten, dass der für jedes Paket Strümpfe ein halbes Tintenfass leert.

Du bekommst deutsche Zeitungen an die Front geschickt, um Dich über die Lage auf dem Laufenden zu halten. Und schimpfst über die Propaganda darin. Dieses ewige Beschönigen unserer Lage ist zu unvernünftig. Unsere Lage ist weder gut noch schlecht, aber es hat keinen Sinn, immer von Riesen-Erfolgen zu schreiben, wenn wir mit Mühe und Not einen feindlichen Schützengraben erobert haben. Das finde ich mutig in einem Brief nach Hause. Wo doch alle noch davon ausgehen, dass stimmt, was in der Zeitung steht. Sich wahrscheinlich auch daran festklammern. Aber Deine Leute sind wahrscheinlich auch so nüchtern und klar wie Du. Aber alles werden sie nicht erfahren von Dir. Weder in Briefen noch – das vermute ich – von Dir persönlich, wenn Du mal zuhause bist.

Was sie erfahren, ist, dass Du nach drei Tagen Schützengraben endlich schlafen darfst. Mehr nicht. Die Verzweiflung, die Du erlebst, kleidest Du in überlegenen Sarkasmus. Seit drei Wochen treiben wir nichts so munter wie die törichten Versuche, so lange auszuhalten bis unser Bataillon uns ablöst. Was nun aus uns wird, ist wieder einmal wie gewöhnlich schleierhaft. Einige behaupten, wir würden demnächst nach Russland verladen. Das wäre ja ganz interessant, einmal einen anderen Kriegsschauplatz kennen zu lernen. Aber ich glaube, es ist dort kalt, gibt wenig zu Essen und keinen Sekt.

So abwegig sind die Gerüchte nicht, wie Du bald erleben wirst. Jedenfalls, wenn Du mal zum Schreiben kommst, sitzt Du meistens in irgendeiner schönen warmen Stube, einem konfiszierten Haus, später ist es auch gerne mal was Vornehmeres. Ob Du Dir mitsamt Deinen Offizierskollegen das Haus nimmst und die Bewohner rausschmeißt, ist mir nicht klar, vielleicht werden euch die Häuser auch zugewiesen, dafür gibt es ja so genannte Quartiermeister. Jedenfalls staune ich über den unglaublichen Aufwand, der während des Krieges betrieben wird, allein um den Tausenden Offizieren ein angemessenes Dach überm Kopf und Verpflegung zukommen zu lassen. Die einfachen Soldaten kampieren meist in Biwaks, also Lagern. Wahnsinn, was für Massen da verpflegt und beherbergt werden. Eine Logistik sondergleichen.

Jetzt haust Du gerade in einem schönen Quartier irgendwo in der Nähe von Lille im Norden von Paris. Im Nebenzimmer sitzt Hajö am Klavier und spielt deutsche Volkslieder. Und Wagner. Die anderen schreiben Briefe. Jetzt spielt er das niederländische Dankjahr. Und ich überlege mir dabei, dass es das Schönste sein muss, was man erleben kann. Dies noch immer nach irgendwelchen Feldzügen im Leben zu hören.

Ich stelle mir vor, gerade aus der Schlacht zurück zu sein, wahnsinnig dankbar zu sein dafür, am Leben zu sein, und dann höre ich Udo Jürgens: Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii…. Entweder ich hätte auch Tränen in den Augen, oder ich würde in hysterisches Lachen ausbrechen. Aber, was ja auch noch eine oft genutzte Abendbeschäftigung an der Front ist, so lese ich in der Fachliteratur – nicht aber bei Dir –  sind Bordelle. Überall an der Front muss es die geben, in simpelster Art für die normalen Soldaten und in Form luxuriöser Etablissements für die Offiziere, Champagner inklusive. Zum Teil werden diese Puffs sogar vom Militär selbst betrieben, weil sie so ärztlich überwacht werden können. Es werden Kondome und Desinfektionsmittel verteilt, damit sich Geschlechtskrankheiten nicht ausbreiten können. Gehst Du auch mal in so einen Puff, Großvater? Auch mal wieder so eine Frage, auf der ich sitzen bleibe.

Im Oktober besetzen die Deutschen Lille. Durch die Nähe zur Front wird die Stadt stark in Mitleidenschaft gezogen. Du bist in einem Vorort einquartiert. Unsere schweren Brummer haben in der Stadt zum Teil furchtbar gehaust. Das Leben in der Stadt hat aber abgesehen von den zahllosen Militärs und endlosen Wagen- und Autokolonnen immer ganz friedlichen Anstrich. Die Läden sind geöffnet und die elektrischen Straßenbahnen verkehren. Viel gibt es freilich nicht mehr zu kaufen. Alles, was sich irgendwie zu den Gebrauchs- und Bedarfsartikeln der Soldaten machen lässt, bekommt man in den Läden umsonst gegen einen von Kommandantur und Merie ausgestellten Bon. Die Franzosen behandeln uns freundlich und mit einem gewissen Bedauern. Kein Mensch zweifelt daran, dass die Russen in Berlin sind. Und dass wir infolgedessen in den nächsten Tagen zum Schutze unseres Landes werden abziehen müssen.

File:Bundesarchiv Bild 183-R05147, Frankreich, Lille, nach Kämpfen.jpg

Frankreich, Lille, nach Kämpfen
ADN-ZB/Archiv/ I. Weltkrieg 1914 – 1918 Westeuropäischer Kriegsschauplatz: 1914. Eine Straße in Lille nach einem Kampf.
28041-14. Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183)

Aber zunächst zieht keiner ab, auch nicht der „Engländer“. Er liegt nur wenige Kilometer entfernt im Schützengraben. Ihr liefert euch harte Gefechte mit „ihm“. Ich kann es ja verstehen, dass Du nichts davon schreiben kannst, wie es ist, wenn Du stundenlang in so einem kalten und nassen Schützengraben liegst und ums nackte Überleben kämpfst. Mir geht’s ausgezeichnet. Das schreibst Du ziemlich oft. Du willst den Deinen zuhause keinen Kummer machen und von Deinen Ängsten schreiben – und dann ist es zu eurer Zeit auch einfach nicht üblich, über Gefühle zu reden wie wir das heute machen. Aber trotzdem: Schade. Es sind Stanzen, die Du von Dir gibst. Wir kommen sehr langsam vorwärts. Aber wir kommen doch vorwärts. Die Besetzung von Calais wäre ein enormer Erfolg. Hoffentlich gelingt es bald. Ich wohne zur Zeit zusammen mit dem Führer unserer ganzen Bagage. Das gemeinsame kameradschaftliche Leben ist sehr nett. Abends macht der Pfarrer Musik vom Choral bis zum Couplet, auch fangen wir schon an, Weihnachtslieder zu spielen. Merkwürdigerweise hat man unserer rein norddeutschen Division einen katholischen Divisionspfarrer ins Feld mitgegeben. Das macht aber nichts, er ist ein äußerst vernünftig denkender Mann, der sehr gut zu den Verwundeten ist.

Das wirkliche Wesen Detel von Oertzen existiert nur noch im innersten Kern einer dick und rau gewordenen Schale. Der Krieg hat Dich abgestumpft, reduziert auf das Notwendigste. Remarque schreibt: das Leben „hat uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen vor dem Grauen, das uns bei klarem, bewussten Denken überfallen würde, (…) es hat uns die Gleichgültigkeit von Wilden verliehen, damit wir trotz allem jeden Moment des Positiven empfinden und als Reserve aufspeichern gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein geschlossenes, hartes Dasein äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken.“

Man kann es also schon als Zeichen tiefsten Frustes verstehen, wenn Du schreibst: Hoffentlich wird’s bald anders.

Es wird nicht anders, oder vielmehr: es wird noch schlimmer. Dein Regiment liegt bei Quesnoy ganz im Norden von Frankreich, und liefert sich tagelange, nächtelange Gefechte mit den Engländern. Schlimmster Schützengrabenkrieg. Die deutsche Artillerie verschießt alles, was sie hat, und schafft doch keinen Durchbruch. Die Gardekürassiere versuchen es mit ihrem Bajonett und werden vom Feind niedergemäht. Wenn Du Dich traust, Deinen Kopf über den Rand zu heben, siehst Du ein riesiges Schlachtfeld vor Dir: Vor uns auf 500 Metern die englische Stellung, aber nur selten die Möglichkeit, einen Menschen zu entdecken. Darüber ergänzt sich ein Hagel unserer Artillerie. Die Schere steht hinter uns. Ihre Geschosse ziehen langsam und vornehm säuselnd hoch über uns. Die  Feldhaubitze mit unangenehmem Knall schießt wenige Meter hinter uns.

Es muss höllenlaut sein auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Stundenlang, ununterbrochen knallt es, explodiert, das muss die Soldaten reihenweise traumatisieren, die Psyche zerrütten. Kriegstraumatisierte Soldaten, „Kriegsneurotiker“, nicht mehr einsatzfähig, tauchen in der Heimat als „Schüttler“ wieder auf. Sie zittern am ganzen Leib und können nicht mehr aufhören damit. Ihr Anblick sorgt dafür, dass die anfängliche Begeisterung der Bevölkerung für den Krieg sich wandelt in pures Entsetzen.

„Shellshock2“ von Photograph taken by Official War Photographer at an Australian Advanced Dressing Station near Ypres in 1917. The wounded soldier in the lower left of the photograph has the „thousand yard stare“ indicative of shell-shock. Given that this photo was taken 90 years ago by an employee of the British Government, I believe that copyright has expired and it is now in the public domain. – See below. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Shellshock2.jpg#mediaviewer/Datei:Shellshock2.jpg

Auch Du merkst, dass es Dir langsam an die Substanz geht. Was man merkt, ist, dass vielleicht die Nerven ein klein wenig nachlassen. Man schläft nicht mehr ganz so seelenruhig beim größten Getöse. Aber das ist ganz natürlich. Im übrigen geht’s mir vorzüglich. Was hat Dich davor bewahrt, zum „Schüttler“ zu werden? Zum Neurotiker, zum Traumatisierten? Vielleicht Dein glasklarer Verstand, gepaart mit norddeutscher Bodenhaftung. Immer wieder beschwerst Du Dich über jene, die weniger nachdenken, die passiver sind, und vielleicht deshalb eher zum Kugelfutter werden. Ablösung der Schützen ist seit neulich nur nachts möglich. Denn die Leute sind unglaublich dickfällig. Sie stehen mit Vorliebe im hellsten Mondschein in großen Gruppen auf dem Grabenrand. Von Zeit zu Zeit sausen dann immer einige Kugeln dazwischen, aber nachts haben sie bisher noch geringen Schaden angerichtet.

Das Leben findet im Graben statt. Rettende Mauern aus Lehm, Graswurzeln, Regenwürmern. Stinkend nach Fäkalien. Ist man glücklich drin im Graben, so ist man gegen Gewehr- und Schrapnellfeuer so gut wie völlig gedeckt. Und auch Granaten können nur etwas tun, wenn sie unmittelbar in den eigentlichen Stand hinein fahren. (…) Nur ein Mann traf im Augenblick, wo er zu uns in den Graben springen wollte, ein abgeschossenes Projektil und war nach 10 Minuten tot.

Großvater, Du bist zäh. Dankbar, dass Du nachts schlafen kannst, dank Decken und Mantel. Und wenn man Füße und Kopf unter der Decke hat, friert man nicht so sehr.

Tagelang, nächtelang hockst Du in diesem Schützengraben. Erst nach einer Woche wirst Du  abgelöst. Und kannst Dich endlich ausschlafen. Und musst schon wieder raus. Diesmal aber nur für 24 Stunden. Und nur in einem hinteren Graben, als Reserve. Aber der Geschützkampf tobte mit unverminderter Heftigkeit. Die Engländer sind unglaublich zäh. Der Aufenthalt in ihrem Graben muss schlimmer als die Hölle sein. Da unsere Granaten auch noch, um sie auszuräuchern, mit fabelhaftem Gestank versehen sind.

Was harmlos klingt, ist der erste Versuch, eine chemische Waffe einzusetzen. Alle kriegführenden Parteien erwägen, sie einzusetzen. Auch wenn die Haager Konvention von 1907 das ausdrücklich verbietet. Lange haben die Generäle deshalb gezögert, sie einzusetzen. Doch als die Lage zusehends festgefahren ist und ein deutscher Durchbruch nicht in Sicht, ändern sie ihre Meinung. Was im grauenhaften Giftgasangriff der Deutschen im belgischen Ypern endet. Schon seit Kriegsbeginn hat der deutsche Chemiker Fritz Haber an Chlorgas experimentiert. Ein hochtoxisches Gas, es reizt die Schleimhäute, führt zu Atemnot, Husten, und schließlich zum Tod durch Ersticken.
Im April 1915 lassen die Deutschen Tausende von Flaschen mit dem Gift nördlich von Ypern eingraben, auf einer Frontlänge von sieben Kilometern. Als der Wind von der richtigen Richtung aus weht, öffnen sie die Flaschen, 150 Tonnen Giftgas entweichen, eine graugrüne Wolke treibt auf die Franzosen zu, die in namenlosem Grauen fliehen – wenn sie noch fliehen können. Rund 1200 Soldaten sterben, 3000 werden schwer verätzt.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/79/Chateau_Wood_Ypres_1917.jpg

Soldiers of an Australian 4th Division field artillery brigade on a duckboard track passing through Chateau Wood, near Hooge in the Ypres salient, 29 October 1917. Quelle: This image is available from the Collection Database of the Australian War Memorial under the ID Number: E01220. Urheber: Frank Hurley
The leading soldier is Gunner James Fulton and the second soldier is Lieutenant Anthony Devine. The men belong to a battery of the 10th Field Artillery Brigade.

Und die Deutschen sind von ihrem Erfolg so überrascht, dass sie nicht in der Lage sind, sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Außer ein bisschen Gelände gewinnen sie nichts.

Aber Du musst all dies zum Glück nicht miterleben. Im November erhältst Du Befehl zum Abmarsch: gen Osten.

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