Eine Kindheit in Berlin

„Los jetzt! Komm schon!“ Kleine schmale Finger krallen sich ungeduldig in Deine Jackenärmel und zerren daran. Das Gedränge vor dem Berliner Schloss ist groß. Du wirfst einen zögernden Blick nach hinten, wo Mutter Adele mit den Schwestern wartet. Ach, was soll’s. Du folgst dem zerrenden Bruder, schiebst Dich zwischen schimpfenden Frauen in ausladenden Röcken und mützeschwenkenden Burschen hindurch. Du willst ja auch was sehen. Da sind die strammen Soldaten der Schlosswache. Sie salutieren. Vor wem? Du hörst Pferdegetrappel, reckst den Hals. Da, tatsächlich, eine Kutsche kommt angerattert.

Das Tor öffnet sich, die Kutsche fährt hinein. Die zwei Kutscher vorn kannst Du kaum sehen, die zwei Diener hinten drauf umso besser. Sie haben weiße Allongeperücken auf, mit Locken wie Wasserwellen, und goldbestickte Livreen. Toll! Du vergisst die Kälte, reißt nun auch die Mütze vom Kopf und schwenkst sie durch die Luft. Und da kommen schon die nächsten Kutschen angerollt. Die Pferde sind wunderschön geschmückt. Aber in welcher der Kutschen sitzt Vater? Am Morgen hast Du ihn noch gesehen, vor dem Spiegel, wie er seine goldstrotzende Uniform noch einmal prüfend begutachtete und dann entschlossen den Zweimaster aufsetzte, diesen schwarzen Filzhut, mit dem Vater immer ein bisschen so aussieht wie Napoleon. Nur viel prächtiger, natürlich. Pünktlich war Vater Fortunatus dann abgefahren, an diesem 27. Januar. Kaisers Geburtstag. Und natürlich seid ihr alle hierher zum Schloss gelaufen, Unter den Linden entlang, mit Hunderten anderen Familien, um sich anzuschauen, wie Vater Fortunatus und die anderen Botschafter zur feierlichen „Gratulationscour“ anrauschen. Vater Fortunatus ist nur Botschafter von Mecklenburg. Hier sind noch ganz andere, größere Länder vertreten. Aber Mecklenburg ist ja auch schon mal was. Mecklenburg, das ist Heimat.

Und Heimat, das ist da, wo ihr immer im Sommer hinfahrt. Das ist viel Land, viel Ostsee, prächtige große Häuser. Das ist: Freiheit, Sonne, Ponyreiten, Eis-Essen. Zuhause hingegen, das ist Berlin. Ihr seid erst vor wenigen Jahren hierher gezogen, ´89, da warst Du 3 Jahre alt. An Deine Geburtsstadt Schwerin kannst Du Dich sicher nicht mehr erinnern. In Deinem Bewusstsein wird es nur die Bendlerstraße 18 in Berlin geben. Ganz in der Nähe der Garnisonskirche, und um die Ecke liegen der Potsdamer Platz und der Tiergarten, da geht ihr oft spazieren.

In der Bendlerstraße 18 wohnt ein Stockwerk drüber ein Chemie-Professor namens Tiemann mitsamt Familie, wozu drei Kinder gehören. Dann gibt es noch das Ehepaar Schulz. Er spätere „Exzellenz von Schulz“, Präsident des Reichseisenbahnamtes. Sie „eine Hausmann“, was nur ein Name ist, und „eine große Sängerin“, was man täglich durch zwei Stockwerke hören kann, wie sich Bruder Willi später erinnert.

Ihr Kinder werdet zunächst von einem Privatlehrer unterrichtet, dem „stadtbekannten prachtvollen älteren Herrn Unglaube“, wie Willi ihn nennt.

Ãœber die Bildung der Schwestern Jenny und Leni schreibt ihr gar nichts, dank Willis Tagebüchern weiß ich, dass er aufs Gymnasium geht, und ich nehme mal an, Du kommst hier auch hin: aufs Königliche Wilhelmsgymnasium im Tiergarten. Willi leidet unter der „Judengesellschaft“. Die Hälfte der Schüler seien Juden, und zwar zum größten Teil Söhne reicher Familien aus dem Tiergartenviertel. Willi wird wenig mit ihnen verkehrt haben, noch weniger Lust gehabt haben, den ein oder anderen vielleicht mal näher kennen zu lernen, er lernt auf diese Weise „nur sehr wenig Altersgenossen unseres Standes“ kennen. Man könnte den Eindruck gewinnen, ihr zwei spielt mehr miteinander, im Haus,  und nicht auf der Straße mit den Jungs des Viertels, Großvater. Oder dürft ihr das nicht? Willi beschwert sich in seinem Tagebuch darüber, dass „die Judenjungens“ fast alle Hauslehrer haben, die ihnen bei den Arbeiten helfen. Mit der Folge, dass sie im Unterricht ziemlich fit sind und der Lehrer das allgemeine Lern-Level an ihnen misst und seinen Lehrstoff gnadenlos durchpaukt – was angesichts der Klassengröße – bis zu 60 „Jungens“ –  fast schon verständlich ist, schließlich muss der Lehrer am Ende der Stufe seinen Stoff durchhaben. Der arme Willi jedenfalls sackt ab und emigriert ins Innere. Und die Eltern, die gehen um 1900 nicht einfach zum Lehrer oder besser noch zum Direktor und beschweren sich über die Situation. Schule = unantastbare Institution = da muss man durch. Schrecklich. Irgendwie jedenfalls schafft ihr am Ende beide das Abi.