Willi wird Gutsherr

Lieber Großvater,

ich möchte mich jetzt mal eine Weile mit Deinem Bruder Willi beschäftigen, denn dessen Leben nimmt eine ziemlich erstaunliche Wende: er wird Gutsbesitzer! Zunächst mal macht er, drei Jahre älter als Du, so ziemlich das gleiche wie Du – oder sollte ich lieber sagen: Du machst das gleiche wie er? Jedenfalls studiert Willi Recht, und er lernt dabei offenbar genauso wenig wie Du – zunächt mal. Er geht dafür nach Heidelberg, und die erste Tür, an die er da klopft, ist die einer schlagenden Verbindung. Und Zack! ist Willi ein Mitglied der „Saxoborussen“, schneller wahrscheinlich als dass er irgendwo eingeschrieben ist. Geöffnet hat ihm die Tür sein Name – schließlich ist Vater Fortunatus selbst als Student in einer studentischen Verbindung gewesen. 400 Mark schickt Fortunatus monatlich an Willi, das ist nicht viel, reicht gerade so aus. Drei Semester treibt sich Willi in Heidelberg herum, weniger an der Uni – da halten es ihn keine 10 Minuten länger als die vorgeschriebenen sechs Stunden Vorlesung pro Woche – sondern vor allem bei den Corpsbrüdern.

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„Auf die Mensur“, Darstellung einer Mensur auf Korbschläger zwischen dem Corps Saxo-Borussia Heidelberg (links mit den Farben weiß-grün-schwarz-weiß und weißen Mützen) und dem Corps Vandalia Heidelberg (rechts mit den Farben gold-rot-gold und roten Mützen), mit gebeugten Knien die beiden Sekundanten, in der Mitte der Unparteiische. Um 1900. Künstler: Georg Mühlberg (1863 – 1925). Herkunft: http://www.burschenschaft.de/server/gfbg/bilder/georg_muehlberg_serie/index.htm. Gefunden bei Wikipedia

Das kameradschaftliche Leben und ganz besonders das Fechten stand absolut im Vordergrund des Interesses. Und das muss so sein. Das stellt Willi noch Jahre später zufrieden fest. Und berichtet stolz, dass er 14 „Mensuren“, also Wettkämpfe im Fechten ausgetragen habe. Die Saxoborussen fechten, deshalb heißt die Verbindung „schlagend“. Andere Verbindungen fechten nicht, sie sind nicht schlagend. Willi prügelt sich also auf akademische Art herum. Ob er dabei auch mal einem, den er nicht leiden kann, ordentlich einen auf die Mütze gibt? Man könnte es meinen, wenn man ihn so reden hört: Meine innere Unfertigkeit, die mir schon auf der Schule zu schaffen machte, ist auch in der Studentenzeit manchmal die Ursache von Reibungen gewesen mit mir begegnenden Menschen. Erst später habe ich es gelernt, mich, wenigstens äußerlich, anzupassen. Mmmhh.. also auf Fotos, die es von Willi gibt, sieht er eigentlich immer frisch gewaschen und gebügelt aus, immer mit dem gleichen ernst-konzentrierten Gesichtsausdruck. Aber es muss eine Geschichte gegeben haben. Er wird sie mit ins Grab genommen haben.

Willi zieht weg aus Heidelberg, hier lernt er zu wenig, auch bei ihm ist München die Stadt der Wahl, hier studiert er nun „juristische und nationalökonomische Kollegs“. Also Jura und Volkswirtschaftslehre. Und ist wieder ein Corpsstudent. Das freie und doch disziplinierte Corpsleben mit den vielen gleichaltrigen, gleichgesinnten Männern, „mit denen man sich abschliff“, jawoll, das tue ihm gut, schreibt er später. Ein Mann, der sich stählt. Hugh! Aber da wohnt noch eine andere Seele in seiner Brust, eine ganz weiche, die sich nach dem Schönen sehnt – eine kunst- und kulturliebende. Willi besucht Ausstellungen und will mehr. Er will zur Wiege der Kultur, nach Italien. Und kommt kaum noch los von ihr, sobald er sie kennenlernt. In Mailand und Florenz, Venedig – auf dem Rückweg nimmt er als einer der letzten Reisenden die Postkutsche – wenige Wochen später wird der Simplontunnel eröffnet, die historischen Postkutschen werden eingestellt.

Ach, und dann Rom. Während Willis Aufenthalt spuckt der Vesuv plötzlich große Mengen Lava. Der Regen treibt die Asche bis in die ewige Stadt. Willi bittet um Geld, um sich 6 volle Schnellzugstunden (heute sind es 3!) leisten zu können und fährt nach Neapel.

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Ausbruch des Vesuv 1774. Gemälde von Jakob Philipp Hackert, 1774. In Wikipedia gestellt von Rainer Zenz 2007

Die Stadt lag wie in dicken grauen Staub gebettet da. Es sah aus, als hätte es hundert Jahre in einer Rumpelkammer gelegen. Die Sonne schien düsterrotgelb durch die Vesuvwolken und manchmal, besonders nachts, zuckten noch Blitze und rollten noch Donner von seiner schwarzgrauen verschleierten Höhe herab.

Der kann schon schön schreiben, Dein Bruder, lieber Großvater. Nicht ganz so beeindruckend wie der Vesuv ist wohl die Begegnung mit den Frauen Krupp. Diese Begegnung hat er Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg zu verdanken, der ist auch gerade in Rom, und als Mecklenburger fern der Heimat lädt er den Landsmann Willi zum Abendessen ins Hotel Bristol ein. Zusammen mit Frau Kommerzienrat Krupp, geborene von Ende, Witwe von Friedrich Alfred Krupp, dem Essener Großindustriellen, und den beiden Töchtern. Willi beschreibt die drei Damen mit spitzen Worten: Frau Krupp sei umfangreich, reserviert, klug, gewandt im Verkehr mit Fürsten und Königen, leidlich vornehm. Die Töchter, damals wohl etwa 18 und 20 Jahre alt, sehr einfach, sehr wohlerzogen, machten gute geübte Konversation, ähnelten der Mutter und waren nicht hübsch. Autsch! Wie wohl Willi wiederum auf diese Damen wirkt?

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David von Michelangelo (Original aus der „Accademia“ in Florenz). Urh.: Rico Heil (User:Silmaril) 2005 GNU-FDL

Italien – jedenfalls sein verschwenderischer Reichtum an Kunst- und Kulturgütern – macht auf Willi einen bleibenden Eindruck. Den man auch durchaus Liebe nennen kann. Ich kann das verstehen. Aber Willi ist es ernst. Er ist kurz davor, sein Jurastudium hinzuschmeißen und Kunsthistoriker zu werden. Aber dann ist da noch diese realistische, nüchterne Seite der Seele. Willi macht sich schlau, wie so die Finanzaussichten in dieser Branche sind und kommt ziemlich schnell zu dem Ergebnis: lieber doch was anderes werden. Auch Vater Fortunatus rät ihm dazu – obwohl er Verständnis für Willis Wunsch hat. Der junge Mann muss von seinen luftigen Michelangelo-Himmeln mit ziemlichem Rumms wieder in das graue Alltagsleben zurück geplumpst sein. Schade. Wäre er später geboren worden, hätte er ein glücklicher, wenn auch brotloser Kunsthistoriker werden können.

Stattdessen gibt er sich einen Ruck und beginnt nun ernsthaft zu studieren. In Rostock. Zum Glück lernt er jede Menge Mitstudenten kennen, gemeinsam lernt und feiert es sich auch hier besser. Vormittags wird gepaukt, mittags im Ratskeller gegessen, nachmittags wieder gepaukt, abends in der Kneipe getrunken. Zwischendurch spielt man Tennis, rudert auf der Warnow oder segelt. So schlimm kann das nicht sein. Aber auch –  schon wieder – nicht sehr effektiv. Besser nach Berlin, hier paukt Willi nun wirklich, und schafft sich ein halbes Jahr lang fast alles Erforderliche für das Erste Staatsexamen drauf. Und – geht doch! – schafft es. Für sein Referendariat in einer Kanzlei und bei Gericht geht er nach Schwerin. Er hat viel Zeit und trifft hier, genau wie Du, Großvater, auf die feine Hofgesellschaft, und macht eine Menge reizender Geselligkeiten mit. Die Tätigkeit war nicht eben anstrengend. Besonders auf den verschiedenen Abteilungen des Amtsgerichts ging es unter den fünf alten verknöcherten Amtsgerichtsräten rührend gemütlich zu. Den Höhepunkt der Tanzereien bilden die zweimal jährlich stattfindenden Hofbälle im Schweriner Schloss.

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Original image: Photochrom print (color photo lithograph)
Das Schweriner Schloss 1890 – 1905
Quelle: Reproduction number: LC-DIG-ppmsca-00674 from Library of Congress, Prints and Photographs Division, Photochrom Prints Collection. {{PD-old}} Urheber: unbekannt. Auf Wikipedia hochgeladen von Sir Gawain 2006

Allerdings, rein tanzsportlich waren die großen Feste im Schloss weniger ergiebig, denn es war nicht gestattet, links herum zu tanzen und auch sonst musste man sich in Anbetracht des Milieus mäßigen. Leider verschweigt Willi, wo und vor allem wie er sich bei anderen Gelegenheiten weniger mäßigt bzw. wie es eigentlich zugeht bei rechtsdrehenden Tanzereien … Diejenigen im Schloss scheinen aber doch ganz interessant gewesen zu sein: Die Gäste versammelten sich im goldenen Saal (…) Es war ein äußerst farbenprächtiges hübsches Bild. Die Damen trugen ihre schönsten Toiletten, die älteren Damen meist aus schwerer Seide, tief ausgeschnitten und mit teilweise prachtvollem altem Schmuck. Die Herren trugen sämtlich Uniformen, meist mit reicher Goldstickerei und weißen Hosen mit goldenen Biesen. Die Referendare (also auch Willi) trugen eine kleine Uniform, dunkelblauer Frack mit dunkelviolettem Samtkragen und Aufschlägen, sowie blanken Knöpfen.

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Collapsible top hat. 2011. Urheber: Nikodem Nijaki. CC-BY-SA-3.0

Dazu den Chapeau-claque (Zylinder), der aber schon im Absterben begriffen war. Man hielt ihn nur während des feierlichen Beginns des Festes in der Hand, die übrige Zeit dekorierte er friedlich mit vielen seinesgleichen die Wände oder die Simse der Säulen und wurde abends entweder vergessen oder verwechselt.

Eröffnet wird der Ball durch die „Fürstlichkeiten“, die offenbar unter dem feierlichen Abblasen eines Festmarsches einmal quer durch die Festgesellschaft laufen müssen – und die verneigt sich dabei artig und „in schweigender Ehrfurcht“. Erst nachdem die Fürstlichkeiten alle wichtigen Ballteilnehmer begrüßt haben, dürfen die Tanzwütigen loslegen. Der Großherzog forderte selbst die Damen auf, die Großherzogin ließ sich meistens frei von den Herren engagieren, wobei die vortanzenden Offiziere für Ordnung und Platz sorgten (ich wüsste zu gerne, wie tanzende Offiziere für Ordnung sorgen! Waren das so eine Art Bodyguards?) Gelegentlich ließ die Großherzogin auch einzelne Herren zu sich befehlen. (Hups!)

Was Willi vor allem zu den Festivitäten treibt, ist weniger die Großherzogin als vielmehr ein junges Mädchen. Und das scheint nicht gerade abgeneigt zu sein. Gerda, Gräfin Westarp, älteste Tochter des Majors a.D. Graf Westarp und seiner Gemahlin, geb. von Rathenow aus Plänitz. Er hat sie schon manches Mal flüchtig gesehen, diese Gerda, denn sie wohnt nur wenige Häuser neben ihm, in der Annastraße in Schwerin. Man sieht sich  auf dem Tennisplatz oder beim abendlichen Spaziergang, nickt grüßend mit dem Kopf, wirft sich verstohlen Blicke zu. Die Sonne scheint heller in diesen Tagen. Alles ist schön. Willi ist verliebt. Er hat Spaß, das Studium ist geschafft, eine Karriere irgendwo in der Verwaltung des Landes steht ihm offen… und dann stirbt Onkel Helmuth, der älteste Bruder von Vater Fortunatus, Herr des alten Familienguts in Roggow.

Roggow1Roggow! Hier kommen die Oertzens her, das Gut ist in Familienbesitz seit mindestens dem 14. Jahrhundert! Seit Jahrhunderten hat es der älteste Sohn vom Vater geerbt und es wiederum an seinen ältesten Sohn weitergegeben. Und nun dies: Helmuth hat nur eine einzige Tochter. Eleonore. Wir schreiben das Jahr 1909, und es ist undenkbar, dass so ein altes Familiengut von einer Frau geleitet wird. Es muss also ein Mann sein, aber welcher? Helmuth wünschte sich, dass sein Bruder Fortunatus dieser Erbe sein wird. Ob er darüber auch mit seiner Tochter gesprochen hat? Fortunatus ist jedenfalls nicht begeistert von der Idee, Gutsherr von Roggow zu werden. Man muss dazu sagen, dass das Gut hoch verschuldet ist. Abgesehen davon, dass Fortunatus nicht den Hauch einer Ahnung von landwirtschaftlicher Bewirtung hat. Wie auch immer, Helmuth setzt in seinem Testament fest, dass sich Fortunatus und Eleonore über die Übernahme auseinandersetzen mögen, und: das Töchterchen solle doch bitteschön auf ihr Lehensjungfernrecht verzichten. So. Lehensjungfernrecht. Wenn jemand mal in den seltenen Genuss kommen möchte, Google quasi stumm zu erleben, bitteschön: einfach „Lehensjunfernrecht“ eingeben. Was ich darüber rausgefunden habe, ist, dass Eleonore eigentlich das Recht hat, ihr Leben lang auf Roggow zu wohnen und daraus auch Nutzen zu ziehen. Sie darf also die Felder bewirtschaften und ernten und die Äpfel des Apfelbaums essen oder auch verkaufen. Und, wie gesagt, sie darf auch dort wohnen. Und darauf soll sie nun also verzichten!? Das ist heftig. Auch wenn Eleonore vermutlich von Kindesbeinen an gewusst haben wird, dass sie nicht auf ewig in Roggow bleiben kann.

Willi selbst hat nur ein einziges Mal mit Onkel Helmuth selbst über dessen Pläne gesprochen, wenige Wochen vor Helmuths Tod. Es machte auf mich einen tiefen Eindruck. Die anderen Brüder von Fortunatus und Helmuth haben schon früher von sich aus auf ihr Recht auf Roggow verzichtet für den Fall, dass Fortunatus die Güter übernehmen würde. Es muss zu einer schnellen Einigung gekommen sein zwischen der „Lehensjungfer“ Eleonore und Vater Fortunatus. Zwei Jahre lang will sie noch die Geschäfte führen, dann soll Fortunatus übernehmen. Von Tante Bille weiß ich, dass Eleonore der Abschied von Roggow sehr schwer gefallen sein muss. Sie hat den Nachbarn geheiratet, einen Grafen Hans Wichard von Wilamowitz-Moellendorff, und ist nie wieder nach Roggow zurück gekehrt, nicht einmal für eine Stippvisite. Heute kann man dort überall Urlaub machen, sowohl in Roggow als auch im Schloss Niendorf, wo Eleonore von Roggow aus hingezogen ist – Vater Helmuth hat ihr das Schloss offenbar als kleinen Mitgift-Trost zur Hochzeit geschenkt, heute erinnert die Ferienwohnung „Eleonore“ an die Unglückliche.

Willi braucht sich vom Kummer der Cousine nicht beeindrucken zu lassen, wird er auch nicht, es ist halt so Brauch, dass ein Mann die Geschäfte führt, und fertig. Jedenfalls, als Fortunatus seinen Ältesten fragt, ob er Gutsherr werden möchte, scheint er nicht lange zu zögern, schon allein weil er unendlich gern meine bisherige Tätigkeit aufgeben will. Trotzdem, was bewegt einen jungen Mann wie ihn – der mitten im Leben steht, der etwas erleben will, der eine Perspektive hat, der keine Ahnung von der Arbeit auf dem Feld hat – dazu, ein uraltes, hoch verschuldetes Gut zu übernehmen?  Ich hatte damals noch kein eigenes Urteil über diese Dinge. Ich war 26 Jahre alt. Heute sind die Menschen frühreifer als unsere Generation! Hatte aber große Lust zur Landwirtschaft aus einem ererbten blutmäßigen Instinkt heraus, der mich nicht getäuscht hat. Aha, blutmäßig. Dann weiß ich ja, warum ich so gerne im Garten arbeite. Es ist aber noch mehr, was Willi dazu bewegt, Gutsbesitzer zu werden: sein Traditionsbewusstsein, und sicherlich auch sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der uralten Familie. Auch wenn sein Entschluss, wie er meint, eher instinktmäßig und nicht bewusst ist. Eigentlich sympathisch, dass er feststellt: Erst verhältnismäßig sehr spät im Leben habe ich überhaupt angefangen, mir verstandesmäßig Rechenschaft über mich selbst und über meine Umgebung zu geben, mit anderen Worten: bewusst zu leben. Seinen Tod hat er jedenfalls sehr genau und sehr lange vorher schon gedanklich durchgespielt, da war höchstens noch der Zeitpunkt instinktiv gewählt. Was wäre aus Roggow geworden, wäre Willi seinen eingeschlagenen Lebensweg weitergegangen, wäre Jurist in der mecklenburgischen Landesverwaltung geworden? Roggow wäre wahrscheinlich an jemand außerhalb der Familie verkauft worden, die Oertzens hätten keinen Familiensitz mehr gehabt, und das hätte Willi nicht ertragen. Und Fortunatus auch nicht. Das ist ganz offensichtlich. Er schreibt in die Oertzensche-Roggower Familienbibel eine Mahnung an meine Nachkommen. Anlass war, dass das uralte Gesetz der „natürlichen“ Weitervererbung von Vater zu Sohn gekippt werden sollte und auch gekippt wurde, mit dessen Hilfe ein Familienbesitz nicht an jemand außerhalb der Familie stehenden weiterverkauft werden durfte.

Angesichts der zweifellos bevorstehenden Beseitigung des befestigten Grundbesitzes (Fideikommiss und Lehen), ist es mir ein Herzensbedürfnis als letztes Glied der älteren Generation aus dem Hause Roggow in diese Familien-Bibel eine ernste Mahnung einzutragen an alle Nachfolger im Besitz von Roggow: Wirket dahin, dass jeder einzelne es als seine unabweisliche Pflicht ansehe, Roggow, das über ein halbes Jahrtausend ununterbrochen in Oertzenschen Händen gewesen ist, diesem Geschlecht erhalten bleibe, solange es noch einen Oertzen gibt. Hat Gott dem Besitzer von Roggow einen männlichen Nachkommen nicht geschenkt, oder hält er ihn für unfähig, unwürdig oder mangels genügender Mittel für ungeeignet Roggow zu übernehmen, so suchet unter den nächstverwandten Namensvettern, in erster Linie aus dem Hause Roggow, denjenigen aus, der geeignet und Willens ist Roggow der Familie zu erhalten.

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Roggow

An dieser Stelle sei gesagt: Roggow ist immer noch in den Händen der Familie. Als eines der ganz wenigen Familiengüter in Deutschland, die noch in Besitz der Ursprungsfamilie sind.

 

 

Jetzt lässt sich Willi vom Justizdienst beurlauben und stürzt sich in die Landwirtschaft. Er lernt bei einem bekannten Landwirt, was es wirklich heißt, so einen Betrieb zu führen. Und dann stirbt plötzlich und unerwartet Mutter Adele. Nach kurzer Krankheit verstorben. Woran? War es Krebs? Darüber schreibt ihr nicht, ihr Brüder. Es war damals üblich, dass nicht lange Federlesens gemacht wurde um den Tod eines Menschen, der schon über 60 war. Vater Fortunatus aber ist tief getroffen vom Tod seiner Frau. Willi schreibt später: Ich fuhr nach Schwerin, wo ich meinen Vater tief erschüttert und gebrochen über diesen jähen Schicksalsschlag antraf. Er sprach von dieser Zeit an viel über seinen eigenen Tod, und obwohl er noch 13 Jahre danach gelebt hat, ist er von diesem Tage an ein alter Mann gewesen, für den das Leben keinen eigenen Wert mehr besaß. Ihr steht Vater Fortunatus bei, sortiert euch und das Haus. Du verschiebst Deine anstehende Militär-Übung: Es ist dringend erwünscht, dass ich noch einige Zeit in Schwerin verbleibe. Um meinen Vater zu unterstützen. Insbesondere bei Ordnung des Nachlasses.

Der Trauermarsch geht durch die Annastraße, wo das Haus der Familie steht. Ein paar Häuser weiter, hinter der Gardine eines Fensters, nimmt auch Gerda an der Trauer teil. Wie wir von Willi später erfahren, haben sie sich kurze Zeit später heimlich verlobt – heimlich, denn Vater Fortunatus war in dem Glauben, diese Neigung von mir wäre nur eine vorübergehende, auch hielt er es damals für notwendig, dass ich, um Roggow halten zu können, eine wohlhabende Partie machen müsse.

Derweil ziehen sich die Verhandlungen zur Übernahme von Roggow länger hin – Grund ist ein Vetter namens Samuel, Sohn des nach Amerika verzogenen und dort verstorbenen Bruders Sievert meines Vaters. Er verzichtet nicht auf seine Lehnsansprüche und muss deshalb abgefunden werden. Da in Amerika keine polizeilichen An- und Abmeldelisten geführt werden, mussten wir ihn mittels eines Detektivs ausfindig machen. Schließlich endeten die Verhandlungen damit, dass er das Angebot meines Vaters annahm und mit 30.000 Mark abgefunden wurde. Das ist viel Geld für die damaligen Verhältnisse. Sehr viel Geld.

Willi studiert mittlerweile auf der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin und macht auf dem Gut des Onkels Bassewitz die Frühjahrsbestellung mit.

Und dann ist es soweit: Am 1. Juli 1911 übernahm ich die Bewirtschaftung unseres alten, ehrwürdigen, mir geheiligten Familienbesitzes, den ich schon von Kindesbeinen an kannte und liebte, und den ich doch erst kennen und lieben lernte, je länger ich ihn besaß und beackerte. Hier lernt Willi Mensch sein, mit der Natur leben. Das fordert Fleiß und Demut. Und gutes Rechnen. Roggow ist damals 1,6 Millionen Mark wert. Inklusive Inventar. Leider auch inklusive einem Haufen Schulden: 1.044.650,- Mark. Noch ist Vater Fortunatus mit im Boot. Vier Jahre später wird Willi alleiniger Besitzer.

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Gerda und Willi

Das heißt: er und Gerda, denn Willi und Gerda heiraten 1912 – mit der Einwilligung von Vater Fortunatus, der von da an der rührendste Schwiegervater, der nur gedacht werden kann, ist. Willi schließt diesen Teil seiner Tagebuch-Zusammenfassung ab mit den Worten: Meine geliebte Frau ist eine tüchtige Landfrau, eine gute Herrin und eine treue Mutter unserer vier Kinder geworden und ich hoffe, es ist noch Sommer und noch nicht Herbst!

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