Eltern

Ihr wart bestimmt stolz auf euren Vater, der machte schon was her.

Fortunatus

Vater Fortunatus ist glücklich in Berlin, es ist der Höhepunkt seines Lebens. So behauptet es zumindest Willi in seinem Tagebuch. In Schwerin war Fortunatus noch Ministerialrat in der Mecklenburgischen Regierung, in Berlin ist er Gesandter, also Botschafter – was ein Aufstieg. Pralles Hauptstadtleben, Promis ohne Ende, Weltoffenheit, Partys, Kultur. Und natürlich Arbeit. Pflicht. Verantwortung. Bedeutung. Amt. Fortunatus ist ein Beamter, mehr als er Politiker ist. Er erledigt seine Aufgaben gewissenhaft, aber mit mecklenburgischer Distanz. Auf dem Deckel der Akte mit den Korrespondenzen steht ein Zitat Goethes: „Ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur und ein tüchtiger Menschenwert dahinter steckte, nie viel Respekt.“ Darunter steht: „Ich auch nicht. F.v. Oertzen“. Dennoch, in seinem Arbeitszimmer stehen im viergliedrigen Rahmen die Bilder der Reichskanzler, unter denen er dient: Bismarck, Caprivi, Hohenlohe und Bülow. Morgens beim Frühstück erzählt Fortunatus von den Empfängen, die er bei diesen Herren besucht, vor allem von den Bierabenden beim Fürsten Bismarck. Dass der sich nach dem Essen vom Diener die Pfeife bringen lässt, sich damit in seinen Lieblingsstuhl setzt und diejenigen Herren neben sich zitiert, die er gerne sprechen will. Alle anderen müssen einen Stehplatz in seiner Nähe ergattern, der Andrang  ist groß, niemand will sich ein Wort entgehen lassen. Ganz anders das Bild seiner Nachfolger. Geben die ein Diner, stehen sie nach dem Essen allein, die Gäste unterhalten sich lieber untereinander in einzelnen Gruppen.

Hochachtung empfindet Fortunatus für seine Landesherren, etwa Friedrich Franz III, Großherzog von Mecklenburg, der öfters mal unangemeldet kommt, um mit der Familie Mittag zu essen (der Diener meldet dann immer: „Exzellenz, da steht ein Großherzog vor der Tür!“).

Fortunatus hat den trockenen Humor der Norddeutschen. Als der Bundesrat 1893 über die Einführung der mitteleuropäischen Zeit abstimmt, stimmen alle Bundesstaaten dafür, nur das Fürstentum Reuß, das Fortunatus mit vertritt, hat ihm Anweisung gegeben, dagegen zu stimmen. Er stimmt also pflichtgemäß dagegen und bemerkt dazu, eine Begründung sei dieser Instruktion nicht beigegeben worden, er könne also nur annehmen, dass der Grund der sei, dass Reuß sich von der guten alten Zeit nicht trennen könne. Dieser Eintrag von Fortunatus soll im ganzen deutschen Reich aktenkundig sein, meint Sohn Willi in seinem Tagebuch.

Fortunatus hält sich fit. Spielt Tennis und fährt Fahrrad. Er ist das einzige Mitglied im Bundesrat, das Rad fährt, weshalb dieses bei seinen Kollegen das „Bundesrad“ genannt wird. Und im Winter fährt er Schlittschuh – die hat ihm ein Schmied als Jugendlicher aus Eisen gemacht, was ungewöhnlich ist zu dieser Zeit, wo die meisten mit Holzschlittschuhen fahren. Er ist Beidhänder, schneidet das Essen mit beiden Händen, spielt Tennis mit links und rechts.

Das Wesen Fortunatus’ hat nicht, was das 20. Jahrhundert so geprägt hat: Nervosität. Er ist standhaft, ruht in sich selbst, man könnte auch böse sagen: unbeweglich. Er hat schnell eine Meinung über jemanden, das schreibt Willi später. Ob jemand „brauchbar“ war oder nicht, hatte er sofort heraus, den Unbrauchbaren gegenüber konnte er dann gelegentlich recht unverhohlen deutlich werden, den als brauchbar Erkannten aber zeigte er großes Wohlwollen.

Das Verhältnis zu euch Kindern beschreibt Willi als gut. Selten werde Fortunatus mal laut. Er und Mutter Adele streiten sich nie, und auch mit euch gibt es keinen Streit. Das finde ich interessant, denn auch Du, Großvater, hast Dich nie mit Deiner Frau und Deinen Kindern gestritten, das weiß ich von Deiner Tochter Armgard, meiner Mutter, die ich auch wiederum nie im Streit erlebt habe. Kein Wunder also, dass ich selbst auch nicht gut im Streiten bin, verdammt juchhe!

Allerdings, schreibt Willi, kann Fortunatus es nicht leiden, wenn ihm jemand widerspricht. Widerspricht ihm jemand öfters, kann er richtig unfreundlich werden, auch Deiner Mutter  Adele gegenüber.

Und die bemüht sich redlich, bei allem mitzuhalten. Sie interessiert sich nicht für Politik, gibt aber brav ein Diner nach dem anderen – so eine Botschaftergattin hat irrwitzige  Repräsentationspflichten – im Laufe eines jeden Winters kommen so über ein Dutzend Diners und ein bis zwei „Tanzfeste“ zusammen. Jedes Fest organisiert Adele allein, nur mit ihrem Koch, auf den Tisch kommen mecklenburgische Landprodukte. Den Schlüssel zur Vorratskammer trägt Adele bei sich, sie hat die – meist mecklenburgischen – Dienstboten genau im Blick, wehe der (Berliner) Köchin, die sie dabei erwischt, dass sie ihre Einkäufe falsch belegt. Zack, hat Adele sie am Schlafittchen, überführt sie und setzt sie an die Luft. Und dann sind die eigenen Empfänge noch lange nicht alles, Adele muss schließlich auch die anderen besuchen, und so ist sie an vier von sechs Tagen fort zu irgendwelchen Festen. Später nimmt sie dazu auch die Töchter Jenny und Leni mit. Wahnsinn, was das ein Geld kostet. Und dann hat Adele noch nicht mal besonders Spaß daran, sie muss es halt machen. Mit der lauten glitzerigen Berliner Gesellschaft wird Adele nie warm, sie ist eben eine echte Mecklenburgerin. Adele Louise Henriette Helene geb. Gräfin von Bassewitz ist eine spröde, reservierte Natur, so erinnert sich Willi später. Zärtlichkeiten auszutauschen ist nicht ihre Art. Die Liebe in eurer Familie kommt wohl mehr vom Vater. Als Adele einmal eine schwere Rippenfellentzündung hat und sich davon im Krankenhaus nicht erholen will, da pflückt er ihr täglich eine Portion Walderdbeeren und kauft dazu Sahne. Auf diese Weise gestärkt, erholt sich Adele langsam wieder. Woran sie 1910 im Alter von nur 63 Jahren so plötzlich stirbt, weiß ich nicht. Was ich ihr hoch anrechne, ist, dass sie auf ihrem Sterbebett über euch Kinder an Fortunatus schreibt: „interessiere Dich für ihre Interessen“. Und das, sagt Willi später, erfüllt Fortunatus, ganz und gar. Wenn es ihm auch schwer fällt. Denn mit dem Tod seiner Adele verliert er seine ganze Lebensfreude und Schwungkraft.

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