Es ist schwierig für einen angehenden Offizier, vernünftig zu studieren. Ständig kommt irgendeine Militär-Übung dazwischen. Hier zwei Monate, da ein ganzes Jahr, beim Kürassierregiment in Pasewalk. Der „Vizewachtmeister“ Detel soll nun zum Leutnant der Reserve der Kavallerie gemacht werden. Du bekommst den Titel 1909, zusammen mit ein paar gedrechselten Worten:
„Nachdem Seine Königliche Majestät von Preußen, unser allergnädigster König und Herr resolviert haben, den Vizewachtmeister im Landwehrbezirk Schwerin Detlof von Oertzen zum Leutnant der Reserve der Kavallerie zu bestellen, so tun dieselben auch hiermit und in Kraft dieses Patents dargestellt kund, dass Seiner Königlichen Majestät und dero Königlichen Hohen Hause derselbe zuförderst getreu hold und gehorsam sein soll. Seine Charge gebührend wahrnehmen, was ihn zu tun und verrichten obliegt und aufgetragen wird bei Tag und bei Nacht, zu Lande und zu Wasser fleißig und treulich ausrichten, bei allen vorfallenden Kriegsbegebenheiten sich tapfer und unverweißlich verhalten, wie es sich einer Eidespflicht gemäß ist.“
Ich habe gegoogelt und das Wort „unverweißlich“ in mehreren alten Schriften dieser Art entdeckt. Die jüngste davon datiert aus dem Jahr 1733. Eine Übersetzung muss ich schuldig bleiben. Hauptsache, Deine Vorgesetzten konnten sich auf diesen mittelalterlich anmutenden Text einen Reim machen. Und das im Jahr 1909, in dem der Italiener Marinetti in seinem „futuristischen Manifest“ die Moderne besingt – und damit die Begeisterung Deiner Generation für den Fortschritt ausdrückt, lieber Großvater, für die Erfindungen von Auto, Flugzeug, Schnellzug. In Berlin eröffnet das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) und das Strandbad Wannsee. Alles glänzt, ist schick, schnell und modern. Scheinbar. Ich glaube, da haben sich in eurer Gesellschaft ganz schön tiefe Gräben aufgetan. Allerdings wird das Militär zumindest technisch noch nachrüsten, das wirst du noch schmerzhaft erleben, Leutnant der Reserve der Kavallerie Detel.
Von Deiner letzten militärischen Zwei-Monats-Übung vor dem Ersten Weltkrieg schickst Du wie so oft einen Brief an Leni, die geliebte Schwester, die nach dem Tod von Adele nun ein bisschen so etwas wie der Mutter-Ersatz ist – jedenfalls das weibliche Element im alten Zuhause. Leni wird nie heiraten, warum, weiß ich nicht, jedenfalls bleibt sie bis zum Tod des Vaters bei ihm – für euch Brüder ist das wunderbar, kümmert sich Leni doch um alles, um das sich sonst die Mutter gekümmert hätte. Du beschreibst die Übung norddeutsch-trocken. Die Offiziere sind meistens auf Urlaub. Es herrscht absolutes Schonungsbedürfnis für Manöver. Und Dienstmachen wird nach Möglichkeit vermieden. Wenn es mir nicht unbescheiden vorkäme, von 56 Tagen noch einige zu schwänzen, würde ich auch auf Urlaub gehen. Denn mein Hiersein ist eigentlich ganz zwecklos. Meist sitze ich und liege ich tagsüber herum und lese und schreibe, und der Casinobesuch ist, was Trinken anbetrifft, sehr solide. Immerhin scheint sich das Essen zu lohnen. Du schwärmst von Hummern, Spickaal, Wurst und kaltem Fleisch und hörst bei Pfirsichen und Melonen noch längst nicht auf. Schöne, unbekümmerte Vorkriegszeit. Jetzt ist sie vorbei.