Im März hat Detel den Brief eines alten Freundes im Briefkasten: Süß heißt der, arbeitet bei der Friedensdelegation in Paris, aber nicht mehr lange, weshalb er Detel fragt, ob der nicht seinen Job übernehmen will.
Geheimrat Süß, den ich von Rumänien her kannte, war damals im Reichsfinanzministerium. Er teilte mir mit, dass er Direktor der Münchner Rückversicherung werden solle und daher leider gezwungen sei, die höchst interessante Tätigkeit in Paris aufzugeben. Er habe mich im Reichsfinanzministerium bereits als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Ob ich wohl damit einverstanden sei?!
Und zwar soll Detel als Vertreter des Reichsfinanzministeriums bei der Kriegslastenkommission in Paris mit am Verhandlungstisch sitzen, um mit den Alliierten über die Reparationskosten zu verhandeln. Vor allem als rechte Hand von Staatssekretär Carl Bergmann. Detel ist sehr einverstanden, ich glaube, der Job auf dem Amt befriedigt ihn nicht allzu sehr. Allerdings kommt noch etwas dazwischen:
Fast wäre die Sache noch daran gescheitert, dass meine Regierung gegen mich den Verdacht der Teilnahme am Kapp-Putsch erhob.
Der Kapp-Putsch am 13. März: Zwei Generäle und der Beamte Wolfgang Kapp versuchen einen militärischen Putsch gegen die Regierung. Kapp erklärt sich zum Reichskanzler. Es ist ein sogenannter konterrevolutionärer Putsch, also zur Wiederherstellung alter Machtverhältnisse gedacht. Die meisten Putschisten sind Soldaten oder ehemalige Soldaten, und Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei. Großvater Detel, muss ich befürchten, ist ganz auf ihrer Linie. Auch er ist Mitglied der Deutsch-Nationalen, auch ihn hat das Militär groß gemacht, auch er ist für die Wiederherstellung alter Machtverhältnisse, erhofft sich ganz sicher die alte Vormachtstellung des Adels.
Der Putsch scheitert, weil er schlecht vorbereitet ist, weil sich Kapp und General Lüttwitz nicht über die Ziele einigen können. Und weil die Regierung die Deutschen klugerweise zum Generalstreik aufruft – und alle mitmachen. Es fährt keine Bahn mehr, kein Bus, es gibt keine Post und keine Zeitungen, es kann nicht telefoniert werden, die Fabriken und Behörden haben geschlossen. So kann keine Putschisten-Regierung gebildet werden, die Konterrevolutionäre geben ziemlich schnell auf.
In den Tagen des Putsches herrscht überall im Land Chaos, auch in Mecklenburg. Der General der Reichswehr von Schwerin, Paul Emil Lettow-Vorbeck, ruft das berüchtigte Freikorps Roßbach nach Mecklenburg. Er befiehlt, „die kommunistischen Verhältnisse“ in Wismar zu beenden, sprich den Streik zu stoppen. Werden plündernde „Banden“ angetroffen, „so ist mit ihnen nicht zu verhandeln, sondern sofort mit der Waffe gegen sie vorzugehen.“ Träger von Waffen, Widerständler und Plünderer unterwegs sollten verurteilt und innerhalb von 24 Stunden erschossen werden.[1] Der Reichswehr-General sympathisiert damit offen mit den Staatsstreichlern um Kapp. Das Wappen des Freikorps: ein skelettiertes Hirschgeweih mit dem Spruch: „Uns kann der Deiwell“. Also „Uns kann der Teufel“. Zahlreiche Mitglieder werden später unter Hitler namhafte Vertreter der SA und der SS, aber davon vielleicht später.
Jetzt, 1920, wird die Soldateneinheit kräftig von der Reichswehr unterstützt und ausgerüstet, Soldaten besetzen in Schwerin, der Landeshauptstadt, den Bahnhof und die Post. Sie sollen die Unruhen der Kommunisten und der von ihnen angestachelten Arbeiter bekämpfen. Und befeuern sie wahrscheinlich eher noch. In Schwerin schießen sie auf Demonstranten. Mehrere Zivilisten sterben, auch zwei Reichswehrsoldaten.
Detel ist klar auf der Seite der Soldaten und gegen die Arbeiterschaft. Er notiert in sein Tagebuch:
16.3. Abends um halb acht dringt eine Rotte junger Menschen (kommunistische Arbeiter) bei Kommerzienrat Lönnes ein, um nach Waffen zu suchen. Die Arbeiterschaft bewaffnet sich. In Mecklenburg gibt es viele Güter, die Jagdwaffen und andere besitzen. Die Arbeiter wissen schon, wo sie zu suchen haben, um sich zu bewaffnen.
Ich gehe erst zu seiner Unterstützung mit hinein, dann aber schnell in meine Wohnung, um die eigenen zu verstecken. Es werden verschiedene Wohnungen und Lokale auf Waffen durchgeplündert.
17.3. Die bewaffneten Horden überfallen bei Roloffshagen auf der Klützer Chaussee einige waffenlose Reiter und beschießen sie erfolglos. Einer wird gefangen genommen, später aber wieder losgelassen. … Es kommen aus Grevesmühlen telefonisch die wildesten Meldungen, um einen nahe bevorstehenden Angriff der Bande auf Damshagen. Im Herrenhaus Damshagen lebt seit Jahrhunderten die Familie von Plessen. Klar, dass man sich gegenseitig unterstützt, wenn rote Arbeiter damit drohen, die Adeligen zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen. Deshalb bleibe ich vorläufig da. Nachts Postendienst vor dem Haus. Etwa 25 Mann stark, hatten wir uns militärisch organisiert. Einmal auch blinder Alarm und kurze Schießerei. Detel stellt sich also klar gegen die Arbeiter. Später wird er Angst haben, dass ihn das als Sympathisant des Kapp-Putsches aussehen lässt.
Bleibt zu ergänzen, dass der Putsch an diesem Tag für gescheitert erklärt wird. Kapp und General Lüttwitz treten zurück. In Mecklenburg, in das die Nachrichten wohl erst später eintreffen, gehen die Auseinandersetzungen weiter. Hier hat sich die Arbeiterschaft gerade erst richtig warmgelaufen und trifft auf die Soldaten des Freikorps. Eine explosive Mischung.
18.3. Die Gerüchte über Plünderungen mehren sich. Aus Schwerin und Berlin nur unbestimmtes. Das Kapp-Unternehmen ist wohl jedenfalls völlig gescheitert. Frau von Plessen verpflegt uns alle prachtvoll mit dicken Suppen und Schweinefleisch. Man fängt an, recht dreckig zu werden. Telefonische Verbindung mit Schwerin funktioniert noch über Klütz. Das Postamt in Grevesmühlen wird von Spartakisten (Teil der neu gegründeten KPD) überwacht. In Wismar scheint es ganz böse auszusehen. Dort kämpft das erwähnte Freikorps Roßbach gegen die aufständischen Arbeiter. Es kommt zu Toten und Verletzten.
Detel versucht offenbar, mitsamt einigen Männern für Ordnung zu sorgen – sprich: aufständische Arbeiter dingfest zu machen.
20.3. Der Generalstreik war erfolgreich. Der Putsch ist für beendet erklärt. Detel fährt zum Amt von Grevesmühlen. Auf dem Markt noch viele Soldaten. (…) Wir treffen uns im historischen Gasthaus, um über die Gründung einer Bürgerwehr zu beraten. Draußen wirft ein Flieger Flugblätter ab. Und als wir gerade unsere Wehr fertig haben, kommt das Flugblatt rein: „Arbeitsaufnahme. Entlassung aller Gefangenen. Entlassung der Freiwilligen usw.“ (Wenn ich das richtig verstehe, sind dies Anweisungen der zurück nach Berlin gekehrten Regierung, die gefangen genommenen Arbeiter zu entlassen und die freiwilligen Bürgerwehren aufzulösen.) Das wirkte wie ein Donnerschlag. Also: freie Bahn für den Bolschewismus. Nun ist alles umsonst gewesen. Und wir alle aufs schwerste kompromittiert. Backe rät mir, auf einige Tage zu verduften, bis sich die erste Erregung der Arbeiterschaft gelegt hat. Abends geh ich noch mal zu Strunk, dort kommt die Alarmnachricht, dass ein großer Zug Spartakisten von Lübeck hierher im Anmarsch sei. Leitner versucht noch für die Nacht eine Art Bürgerwehr zustande zu bringen. Ich bin aber zu Ende, dass ich mich nicht mehr ernstlich beteiligen mag. Ich zieh mich um, lege mich angezogen aufs Bett und schlafe herrlich.
Vom Familiengut Roggow kommt die Nachricht, dass dort die Arbeiter streiken. Ansonsten ist dort aber alles ruhig geblieben. Tage später hört Detel: Sie haben dort 45 Mann von der roten Armee mit Maschinengewehren und gut ausgerüstet als Einquartierung gehabt. Diese haben sich anscheinend leidlich anständig benommen.
22.3. Auf dem Ministerium mit den verschiedensten Menschen gesprochen. Allgemein ist die Auffassung, dass irgendwelcher Widerstand jetzt nutzlos sei. Und dass man mit der bewaffneten Arbeiterschaft verhandeln müsse, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Eine rote Armee, brillant ausgerüstet, steht im Ruhr-Revier.
Diese „Rote Ruhrarmee“ besteht immerhin aus mehr als 50.000 Bewaffneten, und die sind durchaus kampferfahren – haben sie schließlich zum großen Teil im Ersten Weltkrieg gekämpft. Die Armee hat sich als Reaktion auf den Putsch gebildet und sich dann nicht wieder aufgelöst, sondern einfach weitergekämpft. Später ergänzt Detel: Das ganze Ruhrgebiet war in ihren Händen. Es blieb schließlich der Regierung gar nichts anderes übrig, als diesem Unwesen durch Einsatz der Reichswehr ein Ende zu machen. Aber schon erhob die Entente drohend den Finger: Reichswehr in der „neutralen Zone“, das widersprach dem Vertrag von Versailles! Und schon zogen die Feinde die Konsequenzen und besetzten Frankfurt, Darmstadt und Hanau. Die „Feinde“, das sind in diesem Fall die Franzosen. Die Besetzung verschiedener hessischer Städte ist eine Strafaktion und dauert nur wenige Wochen.
23.3. Mittags wird ein Arbeiter aus Hungersdorf, der bei der Festnahme von der Reichswehr erschossen worden ist, begraben. Etwa 500 Arbeiter mit roten Fahnen und roten Kranzschleifen folgen. Ich mache, um dem zu entgehen, einen langen Spaziergang mit Vorbecks. Die Arbeiterschaft der Klützer Gegend hat einmütig entschlossen, keinen von den Herren (wie Detel), die sich in Damshagen zusammenfanden, wieder auf den Gütern zu dulden. Das ist ein großes Unglück für viele. Bei der Regierung werden sie keine Hilfe finden.
Noch Tage später befürchtet Detel: Es ist immer noch möglich, dass mich die Regierung wegen der Teilnahme an dem Damshagener Unternehmen zur Verantwortung zieht. Wenn ich mich auch völlig unschuldig fühle, können sie mir natürlich, wenn sie mich los sein wollen, einen Strick daraus drehen.
Detel sieht mittlerweile überall den roten, kommunistischen Teufel am Werk.
25.3. Es ist erschreckend, immer wieder feststellen zu müssen, wie grauenhaft genau nach dem russischen Programm bisher alles bei uns verlaufen ist. Nun kommt wieder ein Schritt weiter. Es werden überall republikanische Bürgerwehren (also demokratie-bewahrende Bürgerwehren) gebildet. Natürlich finden eine Menge unlauterer Elemente darin Aufnahme. Der beste Grundstock für die Rote Armee. Wenn nur unsere Arbeiter nicht so dumm wären. Jede gemeinste Lügeneinflüsterung von ihresgleichen glauben sie blindlings. Sie glauben auch fest, dass die Horden der letzten Tage recht gehabt haben, die Waffen überall aus den Häusern gewaltsam zu holen. Und sie glauben, dass jeder Reichswehrmann ein Verteidiger der Umstürzler Kapp und Lüttwitz ist.
27.3. Morgens fahre ich zur Sitzung des Bundesvorstandes des Mecklenburgischen Beamtenbundes nach Schwerin. Was so spannend klingt wie eine Tasse Kamillentee, entwickelt sich zu einer interessanten Diskussion darum, ob Beamte streiken dürfen oder nicht. Schließlich war gerade Generalstreik und ein Herr Dr. Spenker ist der Meinung: dass es Pflicht des Beamtentums ist, unter allen Umständen den Weitergang der Staatsmaschine zu gewährleisten. Dass es deshalb nicht richtig gewesen sei, sich an dem Generalstreik zu beteiligen. Dagegen wurden Stimmen laut, die erklären, der strikt durchgeführte Generalstreik würde das Kapp-Unternehmen noch viel schneller zu Ende gebracht haben. Eine Ansicht, die heute allgemein gültig ist und auch von den meisten im Saal geteilt wird. Als es zu einer Abstimmung darüber kommt, ob Beamte streiken dürfen oder nicht, stimmen 47 dafür, 3 dagegen. Wie Detel abgestimmt hat? Hmpf. Ich stimmte dagegen. Weil damit meines Erachtens der Streik letzten Endes nur aus politischen Gründen vorgesehen wird, und das ist für die Beamtenschaft unmöglich. Als ob Beamte nicht politisch sein dürfen.
Das Reichsfinanzministerium meldet sich und bittet zum Gespräch nach Berlin. Es geht um den Posten in Paris. Detel macht sich gleich auf den Weg. Alle im Ministerium raten ihm zu, den Job anzunehmen. Der Staatsminister Wendorff, seines Zeichens Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, allerdings verlangt, dass der Zusatz gemacht würde, Herr von Oertzen gehört übrigens der Deutschnationalen Partei an. Einer Partei, die selbst vor gewaltsamen Umstürzen der bestehenden Verhältnisse (s.Kapp-Putsch) nicht zurückgeschreckt habe. Das hat dem Direktor Wolter nicht gepasst. Und er hat infolgedessen das Schreiben nach Berlin entworfen, mit dem Zusatz: Herr Ministerpräsident, Dr. Wendorff hält es für nötig, darauf hinzuweisen, dass Herr von Oertzen usw. Das ist wieder dem Minister Stelling, der die Sache schließlich unterschreiben musste, zu dumm gewesen. Und so hat er den Zusatz ganz fortgestrichen.
Detel fährt nach Roggow, dort findet die Taufe von Bille statt, meiner Großtante. 2018 ist sie gestorben, einen Tag nach meiner Mutter. Bille ist 98 Jahre alt geworden.
Nachher großes Dinner. Es wird recht spät. Und ist sehr gemütlich. Es ist herrlich, einmal einen Tag ganz friedensmäßig zu leben. Die Nacht ist allerdings wieder etwas kriegsmäßiger. Indem ich wegen Überfüllung der Betten des Hauses auf Willis Sofa schlafen muss, was aber sehr gut verläuft.
Er scheint aber ansonsten mehrere schlaflose Nächte zu haben und macht sich Sorgen um seinen Job in Paris. Ob er den jetzt noch bekommt? Die Einwilligung seines Schweriner Ministeriums immerhin bekommt er.
In Sachsen stellt ein kommunistischer Arbeiterführer regelrechte Kampftruppen unter den Arbeitern auf, die einen Aufstand proben. Mehrere Tage lang liefern sie sich mit der Polizei Gefechte.
14.4. In Deutschland sieht es toll aus. Im Vogtland zum Beispiel regiert seit ungefähr 14 Tagen ein Räuberhauptmann, namens Hoelz. Er lässt Menschen, die er nicht mag, besonders Gutsbesitzer, umbringen. Stürmt Bauten und erpresst von den Stadtverwaltungen Riesengelder. Und die Regierung hat mit diesem Kerl tagelang verhandelt. Jetzt endlich scheint die Reichswehr vorzugehen.
Wer war dieser Max Hoelz? Die taz schreibt[2], er war der bestgehasste und gefürchtetste Feind des Bürgertums, während Arbeiter- und Unterklassen in ihm einen Volkshelden sahen“. Vier Jahre hatte er im Weltkrieg gekämpft, nun musste er von einer Rente von 40 Mark leben. Im Vogtland in Sachsen, in dem Städtchen Falkenstein, das 16.000 Einwohner zählte und 5000 Arbeitslose. Als sich dort ein Arbeitslosenrat bildete, wurde der rhetorisch begabte Hoelz zu dessen Vorsitzendem gewählt. Dieser Rat organisierte die Versorgung der hungernden Bevölkerung mit Lebensmitteln und setzte eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung durch. Bei einer Demonstration, so schreibt die taz weiter, zwang die Bevölkerung den Bürgermeister des Ortes, in vorderster Reihe mitzumarschieren. Der war darüber so sauer, dass er bewirkte, dass die Reichswehr einmarschierte. Die Mitglieder des Arbeitslosenrates wurden gefangen genommen, aber Hoelz gelang die Flucht. Auf seinen Kopf wurden 2000 Mark ausgesetzt. Hoelz schloss sich im Untergrund den Kommunisten an. Als er von der Roten Armee im Ruhrgebiet Wind bekommt, beschloss er, so etwas ähnliches auch in Sachsen auf die Beine zu stellen. Mehr als 400 Mann hat er wohl nicht auf die Beine gestellt bekommen. Nachdem die Regierungstruppen erst die Rote Armee im Ruhrgebiet zerschlagen hatte, zogen sie weiter ins Vogtland, um auch Hoelzens Armee klein zu machen. 20.000 Reichswehrsoldaten gegen 400 Mann. Nach ein paar Tagen des Stellunghaltens floh Hoelz mit seinen Mannen in die Wälder und löste seine Armee auf. Er selbst floh in die Tschechoslowakei. Sein Leben ist auch später noch spannend, aber wir verlassen ihn hier wieder.
Nun ist es schon Mitte April und Detel hat noch immer nichts aus Berlin vom Reichsfinanzministerium gehört. Das treibt ihn um.
16.4. Es fängt wieder an, unheimlich zu werden. Heute ist der erste Staatsanwalt hier, um die Vorgänge in Schmachthagen zu untersuchen, wo ein Spartakist von den dort versammelten Zeitfreiwilligen erschossen worden ist. In Chemnitz und an vielen anderen Stellen des Reiches herrscht Rätediktatur. Es wird systematisch die Alleinherrschaft der Arbeitnehmer herbeigeführt. Und die Regierung scheint immer noch nicht zu begreifen, dass das gleichbedeutend ist mit der Diktatur des Proletariats. Und dass damit auch ihre Herrlichkeit endgültig vorüber ist. Ich möchte so gerne in Paris sein, ohne die Kommunistenherrschaft, denn ich bin nun doch noch auf Geld angewiesen. Und hier kann ich nicht im Amt bleiben, wenn die Schweinerei losgeht.
Und dann kommt tatsächlich die ersehnte Nachricht:
17.4. Sie sind einverstanden. Der Urlaub nach Berlin ist bewilligt und ich soll mitteilen, wann ich mich zum Dienstantritt in Berlin zu melden beabsichtige. Ich entschließe mich schnell zu Montag in 8 Tagen. Fast ist mir die Zeit bis dahin noch zu lang. Man kann gar nicht wissen, was bis dahin noch alles passiert. In ganz Deutschland sollen große Truppenverschiebungen im Gange sein. Man befürchtet wieder ernstlich Putsche. Ob von rechts oder links weiß ich nicht. Ich halte es für ausgeschlossen, dass von rechts etwas kommt.
Detel fängt an, Abschiedsbesuche zu machen. Mit viel gutem Rotwein. Fünf Tage später fährt er nach Berlin, in die große, laute Stadt, die das norddeutsche Landei Detel ziemlich erschlägt. Im Reichsfinanzministerium macht er einen Rundgang durch die Büros, um sich überall bekannt zu machen.
24.4.Zum Teil ist es sehr komisch. Einer begrüßt mich damit, ich sei ja wohl ein besonders guter Kenner des Friedensvertrages. Entweder er hielt mich für jemand anderes oder jemand hat das in die Welt gesetzt, um mich zu empfehlen. Soviel Ehrlichkeit hab ich aber doch nicht aufgebracht, um ihm zu sagen, dass ich das Ding erst einmal eine Viertelstunde in der Hand gehabt hätte. Mittags das Essen in der Kantine ist leider schlecht. Detel erfährt, dass er in vier Wochen nach Paris geschickt werden soll. Wie ich bis dahin auch nur annähernd einen Überblick über mein zukünftiges Arbeitsgebiet bekommen soll, ist mir ein absolutes Rätsel. Zumal ich mich mit Finanzfragen überhaupt noch nicht beschäftigt habe.
Detel liest nun vor allem den Friedensvertrag auf Französisch. 27.4. Mir graut doch etwas davor, ob meine Sprachkenntnisse in Paris ausreichen werden. Zwei Mal die Woche nimmt er jetzt eine Stunde Französischkonversation, mit einer hässlichen Deutschen, die jahrelang in Frankreich gelebt hat. Dann liest er mehrere Stunden täglich Akten, um sich einzuarbeiten.
3.5. Die Fragen, die aus Anlass der Erfüllung des Friedensvertrages zu behandeln sind, sind von solch einer beängstigenden Fülle, dass mir vorläufig alles im Kopf schwirrt. Zahlung von 20, 40, 60 Milliarden, Abtretung des deutschen Eigentums im Ausland, Eintritt Polens in die laufenden deutschen Verträge, Entschädigung Frankreichs für Übernahme der Versicherungsanstalten in Elsass-Lothringen, Übernahme eines Teils der deutschen Staatsschuld durch die friedlichen Annexionsstaaten usw. usw.
Ein Berlin-Fan wird Detel auch in den vier Wochen nicht. Er freut sich darauf, die Stadt wieder zu verlassen. Die nächsten Worte sind zum Fremdschämen.
10.5. Ein Komiker hat neulich auf einem Fest bei Bleichröder das große Wort gesprochen: ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Juden! Das ist das Kennzeichen für Berlin: Juden, wohin man sieht. Auf der Straße, Juden in allen Reichsbehörden. Jüdisches Geld, in den Zeitungen und im Theater.
Was Detel da redet, ist schlimm, es ist aber auch interessant, weil es zeigt, wie antisemitisch er immer noch denkt. Auch folgendes ist interessant:
Bruno Tiemann lud mich neulich zum Essen und anschließend zum Vortrag in der deutschen Gesellschaft ein. Es ist eine politische Donnerstagabend-Gesellschaft, die dort regelmäßig tagt. Leiter ist Geheimrat Irmer vom Auswärtigen Amt. Auch die anderen Teilnehmer sind meistens AA-Mitglieder. Thema an diesem Abend: Palästina und die Judenfrage. Als ob wir hier in Deutschland nichts Wichtigeres zu tun hätten. Vortragender: ein Jude, der Referent im Auswärtigen Amt ist. Die Diskussion war ganz interessant. Man war sich ziemlich einig darüber, dass die Begründung des Judenstaates in Palästina eine Utopie sei. Wohlhabende Juden würden sich hüten, aus ihren komfortablen Häusern in Berlin, Warschau usw. in dieses Sauland überzusiedeln. Man könne dort auch nichts erreichen und England kann es wegen der Araberbevölkerung nicht riskieren, die Einwanderung der Juden in Palästina zu sehr zu begünstigen.
Ein Judenstaat in Palästina: eine Utopie. Und das im Jahr 1920, eine Jahreszahl, die mir so nah erscheint zu den Jahren der Naziherrschaft darauf. Und der bitteren Notwendigkeit, einen Judenstaat in Palästina zu errichten!
Detel legt sich mit Hilfe der Kollegen in den Ministerien eine Haltung zum Thema Reparationszahlungen zu. Etwa in der Frage der Kohlelieferungen: Die Franzosen verlangen jetzt 2 Millionen Tonnen im Monat. Ob wir das überhaupt leisten können, ist mir noch nicht ganz klar. Jedenfalls wollen wir es nicht. Müssen aber natürlich den Feinden (!) gegenüber immer behaupten, dass wir von dem besten Willen beseelt seien. Sie haben auch diese Zahl nur genannt, um nachher ihren Völkern wieder verkünden zu können, dass wir böswillig nicht erfüllen. Unter der Hand haben sie wissen lassen, dass sie auch mit 40 % ganz zufrieden seien. Pasel meinte, ich würde wohl in Paris die ganze Arbeit zu machen haben. Denn Bergmann sei nicht sehr fleißig. Und andere sind nicht vorhanden. Ich solle nur ja aufpassen, dass Bergmann nicht zu weit nachgebe. Dazu sei er sehr geneigt. Und solle mir immer genügend Sachverständige kommen lassen.
Von dem Vorsitzenden der Kriegslastenkommission, Carl Bergmann, hat Detel später nur Positives berichtet. Faul scheint er auch nicht gewesen zu sein, und ziemlich klar in der Ansprache.
Schnell ist die Zeit in Berlin um, jetzt geht es an die letzten Vorbereitungen. Detel lässt sich von Leni noch ein paar Dinge schicken: weiße Hosen, Khaki-Hosen, weiße Schuhe und „einige weiche Kragen“, ein Dutzend Baumwoll-Socken und sein Fernglas: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man sich im Theater jetzt mit schlechten Plätzen begnügen muss. Will heißen: Die vorderen Sitzreihen kann er sich zumindest in Berlin nicht mehr leisten. Ob das in Paris auch so sein wird? Schauen wir mal. Mit dem Zug geht es über Köln nach Paris.
19.5. Morgens 7 Uhr auf der Gare du Nord. Ein junger Mann von der Delegation holt mich ab. Fahrt mit dem Auto 20 Minuten über die Place de la Concorde nach der Avenue de la Bourdonnais.
Dort ist der größte Teil der Häuser Nr. 50 und 52 für die Zwecke der Delegation gemietet. Süß bewohnt die Hälfte der 2. Etage. Sehr manierlich. Sekretärinzimmer, Esszimmer, Arbeits-, Schlaf-, Badezimmer. Ich soll die Wohnung bekommen, sobald er fortgeht. Vorläufig bekomme ich ein leidliches Zimmer in derselben Höhe. Nach schönem, warmem Bad mache ich mit Süß einen kleinen Bummel zum Eiffelturm, der nur 2 Minuten von uns entfernt liegt. Dann Meldung bei Unterstaatssekretär Bergmann, dem Vorsitzenden der Kriegslastenkommission. Er wohnt mit Frau und Kindern unten in unserem Hause. Er macht einen verständigen Eindruck. Das dritte und letzte Mitglied der Kommission ist ein kleiner Jude, Dr. Meyer, der mir allgemein sehr empfohlen wird. Nur soll er sehr faul sein. Mittagessen gut und reichlich im Casino im Nebenhaus. Dort werden alle Delegationsmitglieder auf Reichskosten frei verpflegt. Das Reich bezahlt 28 Francs pro Person und Tag, das heißt nach dem jetzigen Valutastande etwa 90 Mark. Nach Tisch ziehe ich mit Süß und dessen Sekretärin, Fräulein von Dordowski, los, um Paris zu besehen. Mir ist etwas beklommen zumute (als Deutscher im ehemaligen Feindesland). Ich merke aber bald, dass kein Mensch Notiz von uns nimmt und sehe mir alles mit viel Spaß an. Mit der Metro zum Louvre: Ein fabelhaft imposanter, riesiger königlicher Bau. Dann Palais royale, Grande Opera, Champs-Elysées, zum Arc de Triomphe. Wir klettern hinauf. Von oben hat man einen herrlichen Überblick über das Stadtbild. Der Verkehr auf den Straßen ist doch erheblich größer als in Berlin. Vor allem große Mengen Privatautos. Bewunderungswürdig ist es mir doch, dass diese alte Stadt so großzügig angelegt ist. Bei uns sind alte Städte in der Regel klein und winklig angelegt. Im Bois du Bologne ist die Hauptfarbenpracht leider schon vorüber. Aber so viele blühende Bäume und Stauden wie in Sanssouci gibt es hier auch überhaupt nicht. An eleganten Pferden ist nichts zu sehen, nur zahlreiche Autos. Um 5 strömt alles zu den Teelokalen. Aber auch diese sind heute nicht sehr stark besucht, weil kein „süßer“ Tag ist. Es darf nämlich wegen Zuckermangels nur dreimal wöchentlich Schokolade ausgeschenkt und Kuchen gebacken werden. Abends wieder großes, gutes Essen im Casino, mit dem Tippmädchen. Nachher noch lange in unserem Salon bei einer Flasche französischem Weißwein mit Süß und Delegationsrat Schillinger gesessen. Dieser erzählt ganz furchtbar bayrisch ganz spaßige und wohl großteils erlogene Geschichten aus seinen Erfahrungen im Pariser Nachtleben.
Detels erste Eindrücke von Paris sind stark patriotisch gefärbt, will sagen: vom gerade erst zurückliegenden Krieg beeinflusst – will sagen: ich wäre entsetzt, wenn mein Sohn so reden würde und ich würde alles dransetzen, ihm das wieder auszutreiben:
Die Stadt Paris ist doch fabelhaft imponierend. Die Großzügigkeit der Anlagen seit Jahrhunderten ist wirklich bewundernswert. Aber dass dieses scheußliche Volk mit seinem Nationaldünkel aus diesem Kriege siegreich hervorgegangen ist, ist zu deprimierend. Die Gloire und die histoire, auf die man hier auf Schritt und Tritt stößt, ist ja sehr interessant. Aber alles ist alt. Und unser junges, tüchtiges Volk hätte wahrhaftig mehr Lebensberechtigung gehabt, wenn es nur nicht so saudumm geführt worden wäre. Puh! Vor allem in seinen Briefen an den Vater und den Bruder trieft es an nationalem Selbstbewusstsein. Was einem hier doch noch mehr als in Deutschland immer wieder Mut macht, ist die schlotternde Angst, die dieses Volk vor uns hat. Sie fühlen sich nicht nur uns unterlegen, an Tatkraft, Fleiß usw., sondern sie fühlen sich tatsächlich auch immer noch militärisch bedroht. Die Engländer sprechen offen aus, dass sie von der Fähigkeit der teutonischen Rasse weit eher ein Wiederaufleben Deutschlands erwarten als Frankreichs.
Es ist wahrscheinlich so etwas wie ein dickes Trostpflaster auf die verletzte deutsche Seele, wenn der Mann in die Wagner-Oper geht und von Schwertern und Führer-Persönlichkeiten besungen wird. Oder sich selbst ans Klavier setzt: Ich habe mir jetzt den Bergmannschen Flügel heraufkommen lassen, und habe heute Abend eine Stunde lang die schönsten alten deutschen Volkslieder gespielt. O Straßburg, und: sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein, usw. immer mit offenen Fenstern, damit die Franzosen auch einmal etwas Schönes hören.
Detel bekommt erst einmal die wirtschaftspolitische Lage Frankreichs erklärt:
20.5. In Frankreich befehden sich wütend die Militärpaten einerseits, die die strikte Durchführung des Friedensvertrages durch Besetzung des Ruhrreviers erzwingen wollen und andererseits diejenigen, die wie Ministerpräsident Millerand erkannt haben, dass wirtschaftliche Beziehungen zwischen beiden Ländern notwendig sind, um beide Länder aufzubauen. Frankreich steht in einer schweren wirtschaftlichen Krisis. Der Francs-Kurs schwankt hin und her, hat aber durchweg sinkende Tendenz. Durch Gesetz ist der französische Staat verpflichtet, alle Kriegsschäden zu ersetzen, ohne Rücksicht darauf, ob wir in der Lage sein werden, dies zu erstatten oder nicht. Der tatsächliche Aufbau ist wegen Mangels an Material unmöglich, also verlangen die Geschädigten Geld. Geld ist aber nicht da. Man hatte zunächst mit einem Kostenaufwand von etwa 3 Milliarden für den Wiederaufbau gerechnet. Man schätzt ihn jetzt auf etwa das Hundertfache.
Am 14. Juli wird in Paris mit großem Pomp das Nationalfest gefeiert. Meinem ursprünglichen Vorsatz, um nichts von diesem Fest, das natürlich größtenteils ein Siegerfest war, zu sehen, bin ich schließlich doch untreu geworden. Und ich bereue es nicht, denn es war immerhin hoch interessant, Stadt und Menschen zu sehen und zu beobachten. Es war köstliches heißes Wetter. Am 13. abends fing überall ein allgemeines Tanzen an. Fast jede kleinste Kneipe hatte ihre Musikkapelle, die draußen auf der Straße auf einem Podium saß und die zwei, höchstens drei Tänze ihres Repertoires unverdrossen die ganze Nacht hindurch in fürchterlichen Misstönen von sich gab. Getanzt wurde auf dem Asphalt, wo es das nicht gab, auf dem Bürgersteig. Elektrische Bahnen, Autos und Wagen warteten geduldig auf das Ende des Tages. Schutzleute waren nicht zu sehen, alles spielte sich in größter Harmlosigkeit und unbetrunken ab. Ich musste mit Bedauern feststellen, dass der Ton mir angenehmer war als in Deutschland an Kaisers Geburtstag, wo es doch fast Pflicht jeden Mannes war, am Abend mehr oder weniger betrunken zu sein. Alle Straßen waren mit Lampions hübsch zurecht gemacht. Alles war auf den Beinen, auch die Säuglinge wurden mitgeschleppt. Viele Gebäude waren prachtvoll illuminiert, das Elektrizitätswerk hat an dem Abend sicher mindestens eine Tagesförderung an Ruhrkohlen verbrannt.
Detel engagiert bald einen Franzosen, der ihm drei Mal die Woche Konversationsunterricht gibt. So oft er kann, besichtigt er Paris und Umgebung. Abends geht er zu Bergmanns, Bridge spielen oder einem Konzert lauschen. Oder er trifft sich mit „Fräulein Küter“ zur Oper. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass in unserer Familie die Meinung vorherrscht, dass alle Menschen gut und klug und schön seien. Ich habe gesagt bekommen, dass dies unter anderem auf dem Mist meines Großvaters gewachsen ist. Wenn ich so lese, was er über die Berliner und auch die Pariser schreibt, verliere ich aber doch so langsam den Glauben daran oder denke zumindest, dass Detel sich noch ganz schön ändern wird im Laufe seines Lebens. Gutes Ballett. Aber keine schönen Erscheinungen. Das Publikum ist mit wenigen Ausnahmen schlecht angezogen. Nur wenige Herren im Smoking. Schluss 12 ein Viertel. Ich bin rasend hungrig, da ich seit mittags nichts gegessen habe. Wir essen noch jeder ein kleines Portiönchen Rührei und Erdbeeren. Dazu eine halbe Flasche Weißwein. Kostenpunkt 44 Francs. Das mit dem Kosten-Vorrechnen muss er sich aber abgewöhnen, sonst verschreckt er noch die Frauen. Er scheint jedenfalls viel auszugehen, schon fast zu viel, wie er meint. Ich will immer so gerne mal zur rechten Zeit zu Bett gehen. Aber es gelingt nie. Entweder es will jemand Bridge spielen oder Bier trinken oder Mutius aus seinen philosophischen Werken vorlesen. Im Winter läuft Detel morgens mit dem Kommissionschef Bergmann zwei Runden ums Marsfeld. Und selbst das Weihnachtsfest verbringt er mit den lieben Kollegen. Gänseleberpastete, Hummer, Früchte, Sekt, Rotwein. Ich mache einen großen Punsch. Bald erscheinen auch Fräulein Kuhlmann und Liesel Müller. Bald sitzen wir an meinem Weihnachtsbaum, bald oben bei Meier, schließlich wird auch noch einen Augenblick getanzt. Und es ist ganz nett und gemütlich.
Zweieinhalb Jahre lang ist Detel insgesamt in Paris. Zwischendurch fährt er ab und an nach Berlin, um sich dort mit den Fachleuten der Ministerien auszutauschen. Gerne ist er nicht dort. Es ist aber ganz gut, von Zeit zu Zeit einmal nach Berlin zu kommen. 1. um nicht die große Not der Heimat zu vergessen, die einen dort auf Schritt und Tritt begegnet, und 2. um die Mentalität der Leute kennen zu lernen, von denen man seine Anweisungen empfängt. Der Nimbus, der das geschriebene Wort der vorgesetzten Behörden umgibt, verfliegt oft bei persönlicher Bekanntschaft.
Detel lebt sich ein in Paris, unternimmt viel, rudert auf der Marne oder besucht die Nachbarn. („Musik-Abend bei Bergmanns, der ausnahmsweise recht gemütlich ist, weil sehr wenig Musik gemacht wird.“) Ich lese bei Wikipedia, dass Enriqueta Bergmann Pianistin war, und dass sie einen wegen ihrer kleinen Hände speziell für sie gebauten Konzertflügel zu ihren Konzertterminen kreuz und quer durch Europa transportierte. Oha: „Nach dem Scheitern der Ehe war sie zeitweilig als Malerin in Haager Künstlerkreisen aktiv.“ Es ist ein bisschen gemein, wenn man als quasi allwissende Erzählerin das Paar durch die Jahre 1920 – 1923 begleitet und schon jetzt weiß, dass die Ehe ein paar Jahre später zerbrechen wird. Detel scheint an einer anderen Frau interessiert zu sein: Liesel Müller. So oft, wie er ihren Namen erwähnt, weil er etwas mit ihr unternimmt. Im Juni 1921 ist er ein paar Tage in Berlin, danach schreibt er: Liesel Müller ist in meiner Abwesenheit sehr schwer krank gewesen. Kein Mensch hat es für nötig befunden, mir davon etwas zu sagen. Das klingt schon so, als ob die beiden eine feste Beziehung hätten, von der jeder weiß. Im September 21 hört sie auf, zu arbeiten und geht offenbar nach Berlin zurück. Und auch Carl Bergmann hört als Chef der Kriegslastenkommission auf, zu arbeiten. Ob Liesel Müller seine Sekretärin ist? Bergmann geht nach Nordamerika, wer sein Nachfolger wird, ist erst im Dezember klar. Vorgestern ist hier der Staatssekretär Fischer als mein neuer Chef angekommen. Ich bin sehr zufrieden damit. Er ist Beamter vom alten Stil, arbeitsam, klug und anständig. Leider wird er seine Familie nicht mitbringen können, da er 7 Kinder im Alter zwischen 10 und einem halben Jahr hat. Schon im Dezember kommt „L. Müller“ wieder zurück nach Paris, mit einem neuen Vertreter der deutschen Friedensdelegation. Ich nehme an, als seine Sekretärin. Allerdings heißt es schon nach wenigen Tagen in Detels Tagebuch: Abends besucht mich Liesel M., es ist ein sehr trauriger Abend. Und am 24.12.: Das gräulichste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe. Ich bin in scheußlicher Stimmung. Und ärgere mich über jeden Menschen, vor allem über die Juden unter uns. Das ist erst einmal grotesk, die Juden müssen mal wieder als klassischer Sündenbock herhalten. Vielleicht ist das aber auch eine Anspielung auf Liesel M.? Denn irgendwo hieß es, dass die meisten „Tippmädchen“ jüdisch sind. Im Januar 22 geht Detel mit Liesel Müller aber schon wieder ins Theater.
Soviel zum Privaten. Was die Arbeit bei der Kriegslastenkommission angeht bzw. das Fortschreiten der unendlich mühsamen, zähen Verhandlungen über die Reparationszahlungen Deutschlands, dazu füge ich hier ein, was Detel später über seine Zeit in der Kriegslastenkommission aufgeschrieben hat (und ergänze das hier und da mit Auszügen aus dem Tagebuch und aus Briefen). Das ist recht umfangreich und an der ein oder anderen Stelle vielleicht ein bisschen trocken und zu detailreich, aber es gibt einen sehr guten Einblick in die täglichen zähen und manchmal auch giftigen Auseinandersetzungen zwischen den Deutschen und den Alliierten.
Paris 1920 bis 1923
Bezeichnend für die damalige Staatsführung war die Art der Behandlung von Reparationsfragen durch die Reichsregierung: jede vertraglich noch so begründete Forderung, die von den Alliierten an uns übermittelt und dann nach Berlin weitergeleitet wurde, erfuhr zunächst einmal ein deutliches: Nein! Trumpfte dann die Gegenseite auf, so war Berlin meistens nach kurzer Debatte bereit, der sogenannten Gewalt zu weichen. Das war in Weimar schon ein übliches Verfahren: zunächst hieß es, dass die Hand verdorren solle, die den Vertrag unterzeichne! Dann – als Marschall Foch (Berater der französischen Regierung) leise im Hintergrund mit dem Säbel rasselte – wurde doch unterschrieben. Man tröstete sich damit, dass die Unterzeichnung doch nur eine Formalität sei – jeder Vernünftige wisse, dass der Vertrag nicht ausführbar wäre. Die Durchführung würde schon in vernünftige Bahnen gebracht, wenn man mit den Alliierten nur erst einmal am Verhandlungstisch zusammensitze. An diesem Verhandlungstisch habe ich nun zweieinhalb Jahre gesessen!
Und hier war es von wenigen Ausnahmen abgesehen so, dass unsere besten Gegenargumente stets durch die einfache Tatsache unserer Unterschrift unter das Friedensinstrument widerlegt wurden, und zwar von allen unseren Gegnern. Die Feinde hatten einen gut funktionierenden Nachrichtendienst in Deutschland und wussten daher über die Grenzen unserer tatsächlichen Leistungsfähigkeit ganz gut Bescheid. Es war deshalb sinnlos, bei jeder Forderung erst einmal „unmöglich“ zu schreien um dann nachher doch nachzugeben. Richtig war es vielmehr, im Wege der Verhandlungen bis an die Grenzen des Möglichen zu gehen, wenn aber diese Grenze erreicht war, dann auch wirklich fest zu bleiben und Nein zu sagen.
Dass man bis an die Grenze des Möglichen erfüllen musste, war nicht „Erfüllungs-Fanatismus“, wie die Alldeutschen behaupteten, sondern die einfache Folge des ungeheuren Fehlers, den man mit dem Unterschreiben des Schand-Vertrages nun einmal begangen hatte!
Stattdessen herrschte im Reich ein Kampf aller gegen alle, der beispiellos war. Bezeichnend war ein Vorgang, den ich in Paris erlebte. Wir hatten nach dem Friedensvertrag eine große Menge Milchvieh in natura an Frankreich abzuliefern. Man schickte uns eine ganze Kommission von Sachverständigen, die der Reparationskommission beweisen sollten, dass diese Lieferungen nicht möglich seien. Ich sehe noch den berühmten Kinderarzt Professor Czerny aus Heidelberg, wie er im Hotel Astoria stand und den Feinden ein schauerliches Bild entwarf von den Folgen, die die Entziehung solcher Mengen Milchviehs auf die Volksgesundheit und auf die Säuglingssterblichkeit haben müsse, er sprach – das weiß ich noch genau – von den verdorrenden Mutterbrüsten in Deutschland und er machte gewissen Eindruck. Dann gelang es der Geschicklichkeit des Staatssekretärs Bergmann in den nächsten Tagen unter der Hand ein Abkommen mit der Gegenseite vorzubereiten, wonach die gesamten Viehlieferungs-Bestimmungen des Vertrages durch die Zahlung einer sehr geringen Geldsumme auf das Reparationskonto – also eine Zahlung, die wir schon damals nicht sehr ernst nahmen – abgelöst werden sollte. Und die Folge: 4 Tage später erschienen 2 Abgesandte des preußischen Landwirtschaftsministeriums, um allen Ernstes zu erklären, sie würden von den deutschen Landwirten einfach umgebracht, wenn jetzt plötzlich die schönen Viehlieferungen nach Frankreich aufhörten, die so viel Geld brächten!
Auch an anderer Stelle mokiert sich Detel über den Dissens zwischen den verschiedenen deutschen Parteien, vor allem zwischen der Kriegslastenkommission und der großen Politik. Die letzte große Rede des neuen Reichskanzlers (Wirth) finde ich recht bedauerlich. Wie kann er sagen, dass es uns möglich sein wird, die Milliarden aufzubringen? Während wir dauernd in vorsichtigsten und mühsamsten Verhandlungen bemüht sind, den Gegnern klar zu machen, dass dies voraussichtlich nicht möglich sein wird? Und selbst wenn es gelingen sollte, die gewaltigen Papiermarksummen aufzubringen, die wir brauchen, so haben wir noch längst kein Zahlungsmittel, mit dem wir die Feinde bezahlen können. (23.6.21)
Die Friedensdelegation, eine deutsche Behörde in Paris
Die Friedensdelegation stand unter Führung des Ministerialdirektors Goeppert vom Auswärtigen Amt, dessen Nachfolger später der Gesandte von Mutius wurde, ein Mann, den ich persönlich gerne hatte, der aber im Nebenberuf philosophischer Schriftsteller war und uns Jüngere gelegentlich – zu unserem Leidwesen – durch Vorlesungen aus seinen Werken zu bilden trachtete.
Der Friedensdelegation angegliedert aber nicht unterstellt war die Pariser Vertretung der Deutschen Kriegslastenkommission unter Staatssekretär Bergmann. Die Kriegslastenkommission hatte an sich ihren Sitz in Berlin, es war eine Kommission der an dem Friedensvertrag beteiligten Ressorts. Die Außenstelle in Paris bestand aus dem Staatssekretär Bergmann, mir, einem Doktor Meyer, der vorher Sekretär bei der Reichsgetreidestelle gewesen war, ferner einigen Hofräten und Dolmetschern und endlich 5 bis 6 Stenotypistinnen, großenteils jüdischer Rasse und Religion.
Die deutsche Kriegslastenkommission hatte ihre Geschäfts- und Wohnräume in einem eleganten Boardinghouse in der Avenue de la Bourdonnais ganz nahe dem Champ de Mars. Dort hatten wir auch das von einem französischen Koch glänzend geleitete Casino der Delegation, wo man dauernd so viel Dinners essen musste, dass man nur den einen Wunsch hatte, mal ein ordentliches Rührei mit Bratkartoffeln zu bekommen. So waren wir nicht traurig, als nach einiger Zeit unsere Bleibe als für das Reich zu teuer aufgelöst werden musste. Wir hatten inzwischen für das Reich das Haus Rue Huysmans 2 gekauft, das nun zurecht gebaut wurde und ein anständiges Bürohaus ergab. Wir mussten uns für unsere Privatunterkunft das geeignete suchen, das war nicht schwer. (Detel schreibt in sein Tagebuch: Ich ziehe persönlich in die 7. Etage der Av. Charles-Floquet 14.)
Kriegslastenkommission und Reparationskommission
Die Aufgabe der Kriegslastenkommission war die Vertretung des Reiches gegenüber der Repko (Reparationskommission). Aufgabe der Repko war die Überwachung der Ausführung des Vertrages von Versailles. In der Repko waren wohl die meisten Feindbundmächte durch einen besonderen Delegierten vertreten, einige wenige durch ihren Pariser Gesandten. Die Repko hatte ihren Sitz im Hotel Astoria, da wo 1941 bis 44 die deutsche Rüstungsinspektion Paris saß. In Erscheinung traten im Allgemeinen nur die Vertreter der Hauptmächte, also Englands, Frankreichs, Italiens, Japans und Belgiens. Die Vertreter dieser Länder waren Männer, die schon daheim Minister oder Botschafter gewesen waren oder es gern werden wollten. Der geschäftliche Verkehr zwischen uns und der Repko spielte sich im Allgemeinen schriftlich ab, ausnahmsweise in feierlicher Sitzung. Diese Sitzungen nannten wir das große Kriegsgericht, der französische Kunst Ausdruck dafür war „Audition“. Dieser Name war eine Prägung von typisch poincareschem Ursprung, es wurde damit schon zum Ausdruck gebracht, dass es sich nur darum handelte uns anzuhören, keineswegs aber sich mit uns in eine Debatte einzulassen. Ich persönlich hatte in der Hauptsache mit dem fast rein englisch aufgezogenen und im Wesentlichen auch mit Engländern besetzten Finance Service der Repko zu tun. Vorsitzender dieser Finanzabteilung war der Engländer Leith Ross, der später lange Zeit einer der mächtigsten Männer im britischen Finanzministerium war. Ein kluger Mann, der die eine sehr unangenehme Eigenschaft hatte, dass er fast ständig Pfeife rauchte, aber beim Sprechen auch dann den Mund nie aufmachte, wenn er mal keine Pfeife darin hatte. Unser Dolmetscher Michaelis erklärte ihm einmal in feierlicher Sitzung, es sei unmöglich ihn zu verstehen, und das erregte die ungeteilte Freude und Zustimmung seiner sämtlichen Kollegen von der Repko, die ihn auch alle nicht verstehen konnten. Nachdem ich den einzelnen Mitgliedern der Repko etwas näher gekommen war, habe ich viel mit ihnen unter 4 Augen in ihren Büros gesprochen und bei diesen Unterhaltungen hatte man doch öfters die Freude, Dinge erreichen oder durchsetzen zu können, die zwar nach außen hin nur in den seltensten Fällen als Erfolg erkennbar wurden, die einem aber doch das Leben auf diesem schauderhaften Posten erträglich machten. Mit dem einen oder anderen Engländer bahnte sich sogar langsam so etwas wie ein gesellschaftlicher Verkehr an, das heißt, man lud sich gelegentlich zum Frühstück in einem Lokal ein und besprach da dies und jenes. Mit den Franzosen dagegen bestand keinerlei außerdienstliche Berührung. Der Gesandte von Mutius hatte sich seiner Zeit als Legationssekretär bei der Pariser Botschaft mit einer Pariserin verheiratet, das heißt mit einer Dame, die den guten Frankfurter Namen Bethmann Hollweg trug und aus dem nach Frankreich ausgewanderten Zweig dieser Familie stammte. Frau von Mutius war eine sehr gute Deutsche, aber ihre Eltern standen doch damals derartig unter der Hass- oder Angstpsychose, dass Mutius schon monatelang bei uns in Paris war, ehe seine Schwiegereltern es gewagt hätten, den Verkehr mit ihrem Boche-Schwiegersohn, mit dem sie sich im übrigen sehr gut standen, wieder aufzunehmen.
Aus der unendlichen Fülle der unerfreulichen Themen, die wir damals mit der Repko behandeln und verhandeln mussten, will ich nur weniges herausgreifen. Die Reparationen bedeuteten Ersatz der Kriegsschäden. Eine der Aufgaben der Repko war es, die Höhe dieser Kriegsschäden festzustellen und die Art und Weise zu bestimmen, wie Deutschland diese Schuld zu begleichen haben würde. Die Reparationsleistungen wurden erbracht teils in baren Devisenzahlungen teils in Lieferungen verschiedenster Art. Die Repko hatte die einzelnen Feindbund-Regierungen aufgefordert, ihr bis zu einem bestimmten Datum eine Berechnung ihrer Kriegsschäden einzureichen, und zwar eingeteilt nach ganz bestimmten Schadensarten: Gebäudeschäden, landwirtschaftliche, forstwirtschaftliche Schäden, Schäden in der Industrie, im Gewerbe, an Eisenbahnen, Bergwerken usw usw. Diese Rechnungen gab die Repko nach Eingang an uns weiter, wir hatten 14 Tage Zeit, um sie zu prüfen und unsere Bemerkungen dazu zu machen und dann konnten die betreffenden Regierungen wiederum binnen 14 Tagen unsere Bemerkungen prüfen und beantworten. Binnen nochmals 14 Tagen hatten wir gewissermaßen das Schlusswort des Angeklagten. Hatte es schon heiße Kämpfe gekostet, dieses Verfahren festzusetzen, so war die Arbeit, die jetzt einsetzte, fast erdrückend. In den meisten Fällen bekamen wir die deutsche sachverständige Antwort aus Berlin erst am letzten Tage der Frist. Sie kam per Fernschreiben. Sie musste nicht nur ins Reine geschrieben, sondern auch noch ins französische und vielfach ins Englische übersetzt werden und wir mussten jedes Wort auf die Waagschale legen, denn wir waren für alle 3 Texte allein verantwortlich. Schließlich kamen wochenlang ganze Scharen von Sachverständigen aus Deutschland, die zu einzelnen Punkten der Schadensrechnungen das Schlusswort in Sitzungen der Repko sprechen sollten. Diese Sitzungen waren unendlich langwierig, denn wer den weiten Weg hierher gemacht hatte, um zu einem bestimmten Punkt zu sprechen, der hatte nun auch das dringende Bedürfnis, alles das, was er sich in wochenlanger Arbeit zurechtgelegt hatte, auch wirklich an den Mann zu bringen.
Detel beschwert sich in einem Brief an seine Schwester über diese Sachverständigen aus Deutschland. Es ist so ungeheuer wichtig, dass man uns hier nur Leute hinschickt, die sich anständig benehmen können. Man wundert sich immer wieder, wie wenige es davon in Deutschland zu geben scheint. In vorbildlichen Formen kann man den Gegnern die größten Grobheiten sagen. Aber die Knoten, auf französisch Boches, die oft in Scharen hier ankommen und arrogant auftreten, schaden uns ungeheuer.
Aus allen diesen Rechnungen und Gegenrechnungen entstand schließlich die Reparationssumme von 132 Milliarden (Goldmark), von der ich noch sprechen werde. Viel Zeit und Mühe beanspruchten auch die Verhandlungen über das mit den geraubten Gebieten auf andere Staaten übergegangene Reichs- und Staatseigentum. Der Wert dieser Gegenstände musste auf Reparationskonto gutgeschrieben und musste daher mit den Feinden ausgehandelt werden. Widerlich waren diese Verhandlungen mit den Polen, sehr unangenehm auch mit den Franzosen, die um den Wert einiger Überseekabel in übelster Weise feilschten.
Detel hat etliche Unterlagen aufgehoben – Sitzungs- und Gesprächsprotokolle aus seiner Arbeit bei der Kriegslastenkommission, aus denen hervorgeht, wie die Verhandlungen so abgelaufen sind.
So gibt es z.B. die Niederschrift einer Sitzung in der Reparationskommission am Freitag 25.6. 1920 nachmittags 05:00 Uhr, es geht um 4 holländische Schiffe, die deutsche Häfen verlassen hätten. Detel und Dr. Mayer, der Botschafter, werden gefragt, ob diese Schiffe denn ordentlich ausdeklariert waren. Das lässt sich offenbar nicht so richtig klären. Und es gipfelt dann schließlich in einer empörten Rede: Hierauf ergriff der Vertreter Englands Sir John Bradbury das Wort und erklärte mit erhobener Stimme und vor Aufregung am ganzen Körper zitternd: in diesem Falle und in ähnlichen Fällen hätte Deutschland Gelegenheit gehabt, vor der ganzen Welt schlagend zu beweisen, dass es gewillt sei, feierlich und freiwillig übernommene Verpflichtungen auch wirklich zu erfüllen und damit den Beweis zu erbringen, dass es würdig sei, in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen der Erde wieder aufgenommen zu werden. Wenn es Deutschland unterlasse, dieser Pflicht zu genügen, könne in Zukunft kein zivilisiertes Volk mit ihm in irgendeine Verbindung eintreten. Er habe den Eindruck, dass Deutschland das Auslaufen der Schiffe geradezu begünstigt habe. Doktor von Oertzen erklärte, von den Ausführungen des Herrn Bradbury Kenntnis zu nehmen. Er werde sie seiner Regierung mitteilen. Präsident Dubois bemerkte: in Anbetracht der bekanntermaßen vorzüglichen See-Organisationen und des hervorragenden Nachrichtendienstes Deutschlands müsse es als sehr merkwürdig erscheinen, dass die deutsche Regierung über das Auslaufen der Schiffe keine Nachrichten zu haben erkläre.
Mir ist damit klar geworden, dass Großvater Detel ja diesen Job wahrscheinlich wirklich sehr anstrengend fand. Er war permanent im Kreuzfeuer. Alle anderen Delegierten haben die Deutschen gehasst und wollten immerzu eine Rechtfertigung hören, warum wieder etwas nicht klappt. Das war kein einfacher Job, den er da hatte. Detel rechnet permanent mit der Zahlungsunfähigkeit Deutschlands. In seinem Tagebuch und in seinen Briefen klingt er deshalb dauer-aufgeregt, getrieben von der echten Sorge um das Wohlergehen Deutschlands, wie hier im März und November 21: Gestern habe ich eine Note von der Reparationskommission bekommen, in der wir aufgefordert wurden, binnen 8 Tagen eine Milliarde Goldmark zu bezahlen. Ein solch unerhörter Wahnwitz ist in der Weltgeschichte noch nicht vorgekommen. Man bedenke, dass das etwa 15 Milliarden Papiermark sind. Leute, die solchen Blödsinn unterschreiben, müssen doch schließlich mit ihrer Politik zusammenbrechen. Aber wie die Sache weitergehen soll, ist vorläufig noch rätselhaft. Die Gegner haben offenbar etwas Angst vor ihrer eigenen Courage gekriegt, und möchten ganz gerne wieder die Verhandlungen aufnehmen.
11.11. Allgemeine Stimmung: Galgenhumor. Jeder weiß, dass wir nicht mehr zahlen können. Keiner weiß, wie es werden soll. In den nächsten Tagen geht ein Erpressungsmanöver schlimmster Sorte los. Dubois ist mit gebundener Marschroute nach Berlin gekommen. Unter keinen Umständen soll von einem Moratorium die Rede sein. Die Januar- und Februar-Zahlungen in Höhe von etwa 500 Millionen Goldmark sollen auf jeden Fall zunächst geleistet werden. Vielleicht ist nachher eine günstige Verhandlungsathmosphäre. Engländer, Belgier, Amerikaner, alle stoßen in dasselbe Horn. Keiner wagt ein Wort gegen Frankreich zu sagen. Frankreich hat zur Zeit die meisten Kanonen. In allen französischen Heimen sitzt unausrottbar die Idee von den ungeheuren Devisenschätzen der deutschen Industrie im Ausland. Wenn wir diese nicht erfassen, so ist das natürlich nur „böser Wille“.
Später werden die Engländer Detel beruhigen – sie hätten da nur auf Verlangen Frankreichs mitgemacht. Hinter den Kulissen gärt es wohl ziemlich zwischen England und Frankreich. Vor allem, was die Verteilung der ersten Milliarde Goldmark aus Deutschland angeht.
Politische Zustände in Frankreich
Darüber, wer damals der stärkste Mann in Frankreich war, konnte kein Zweifel bestehen: es war Poincaré. Zur Zeit des Friedensschlusses war er Präsident der Republik gewesen, er hatte sich im Friedensvertrag mit der Reparationskommission ein Instrument geschaffen, mit dessen Hilfe er gehofft hatte, nachträglich wenigstens noch einen Teil dessen zu erreichen, was er unter dem Druck der Alliierten auf der Friedenskonferenz nicht hatte durchsetzen können. Es war daher logisch, dass Poincaré, als seine Wahldauer als Präsident der Republik abgelaufen war, sich zum Präsidenten dieses von ihnen geschaffenen Instrumentes machen ließ: der Commission des Réparations. Wenn er aber geglaubt hatte, mit und auf diesem Instrument nach seinem Belieben spielen zu können, so hatte er weder mit der Eifersucht der ehemaligen Alliierten noch mit dem Machthunger seiner Nachfolger in der Regierung gerechnet, die keinesfalls gewillt waren, sich von dem außerordentlich unbequemen Poincaré, nachdem sie glücklich von seiner Präsidentschaft befreit waren, nun auf dem Umwege über die Reparationskommission weiter regieren zu lassen, die vielmehr von Anfang an der Kommission die Rolle zuweisen wollten die ihr zukam: ein Instrument der in ihr vertretenen 3 Hauptsiegermächte zu sein. Daraus, dass es ihm nicht gelang, diese von ihm selbst herbeigeführte Lage zu seinen Gunsten zu ändern, zog Poincaré bald die Folgerungen und legte sein Amt als Präsident der Repko nieder. Das war gerade in den Tagen, als ich meinen Dienst in Paris antrat.
Französischer Ministerpräsident war Millerand. Dieser Mann hatte erkannt, dass ein Wiederaufbau Europas nicht möglich sein würde, ohne dass man den Versuch machte, einigermaßen normale Beziehungen wirtschaftlicher Art mit den ehemaligen Kriegsgegnern anzuknüpfen. Er wurde wütend bekämpft von der damals noch sehr einflussreichen Militär-Partei, die das ganze ungeheure Schwergewicht des Ansehens ihres unbestrittenen Führers, des Marschalls Foch, und auch des Präsidenten Poincaré in die Waagschale werfen konnte, die immer wieder auf der strikten Durchführung des Vertrages bestand und ständig bereit war, diese, wenn nötig, durch Besetzung des Ruhrreviers zu erzwingen.
Frankreich stand damals in einer schweren wirtschaftlichen Krisis. Der Franc-Kurs schwankte hin und her, hatte aber im allgemeinen sinkende Tendenz. Der französische Staat war gesetzlich verpflichtet, alle Kriegsschäden zu ersetzen, ohne Rücksicht darauf, ob er selbst aufs Reparationskonto Ersatz erhielt oder nicht. Es fehlte an allem. Der tatsächliche Wiederaufbau scheiterte an dem Mangel an Materialien, und der Ersatz in Geld war nur möglich, wenn man die Inflation in Kauf nahm.
Ursprünglich hatte man damit gerechnet, mit etwa 3 Milliarden Francs die sachlichen Kriegsschäden beseitigen zu können, im Jahr 1920 war man schon so weit, mit dem etwa Hundertfachen zu rechnen und deshalb völlig an dieser Aufgabe zu verzweifeln. Frankreich blieb also im Augenblick gar nichts weiter übrig, als mit allen Mitteln beides von uns zu erpressen: Geld und Sachleistungen. Die Sachleistungen, die später im Verhältnis der beiden Länder untereinander jahrelang eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, waren damals noch in den Anfangsgründen, die deutsche Schwerindustrie unter Führung vom alten Stinnes lehnte vorläufig aus politischen Gründen alles ab.
Präsident der Republik war Paul Deschanel, der arbiter elegantiarum, ein irgendwie kranker Mann. Eines Abends fuhr er mit dem train présidential aus Paris zu einem Staatsbesuch in entlegene Gegenden seines Landes ab. In der Nacht kam plötzlich bei einem braven Bahnwärter an der Strecke, die der train présidentiel passieren sollte, ein älterer Herr im weißen seidenen Pyjama an die Tür und bat um Unterkunft mit der Begründung, er sei der Präsident der Republik! Tatsächlich stellte sich heraus, dass er auf völlig rätselhaft gebliebene Art aus dem Zug gefallen war, ohne sich etwas zu tun, und der Zug kam morgens auf der Bestimmungsstation an bevor man noch gemerkt hatte, que ce trein déjà plusieurs heurs n’etait plus présidentiel!! (In seinem Tagebuch rätselt Detel, wie der Präsident aus dem Zug gefallen sein mag: Betrunken scheint er nicht gewesen zu sein. Vielleicht ein Ohnmachtsanfall am offenen Fenster. Vielleicht hat er auch die Lokustür verwechselt.)
Leben der Deutschen in Paris
An einem der ersten Tage meines Pariser Aufenthalts saß ich mit mehreren Herren und Damen im Pré Catelan, damals einem der elegantesten Lokale der Stadt. Es war dementsprechend teuer aber Punkt 10:00 Uhr wurde geschlossen. Polizeistunde!
(Detel scheibt in seinem Tagebuch am 26.5.20: Man ist es so wenig gewöhnt, dass wir alle in der Nacht darauf nicht ordentlich schlafen können. Dabei haben wir gar nicht besonders viel getrunken. Wohl aber viel schwere Sachen gegessen. Hors d´Oevre, Hummer, usw. Sehr elegantes Publikum, aber nicht beste Gesellschaft. Viel Fleisch. Alles tanzt.) Was die Anschaffungen in der Stadt anbetraf, so war man in Bezug auf die Qualität der Ware doch von Deutschland her trotz 4 Kriegsjahren immer noch so verwöhnt, dass man nur das Nötigste kaufte und die sonst nötigen Einkäufe lieber auf die nächste Reise nach Hause verschob. Wir bekamen unsere Gehälter in Francs, das war damals eine Edelvaluta. Man tat gut daran, Francs zu sparen, denn die Preise daheim waren noch weit unter den Weltmarktpreisen und so konnte man mit ein paar 100 Francs die schönsten und besten Sachen in Deutschland einkaufen. So blieb es bis zum Ende der Inflation. Unsere Preise hinkten immer hinterher, wer Auslandsvaluta besaß, war der viel beneidete große Mann! Im Oktober 1922 kostete der Dollar etwa 10000 Reichsmark, eine Fahrkarte von Berlin nach Paris kostete 52000 Reichsmark, also rund 5 Dollar, davon entfielen aber auf den deutschen Teil der Strecke nur 3000 Reichsmark, also für ein Drittel Dollar konnte man durch halb Deutschland reisen! Auch ein Hut, den ich mir damals in Berlin für 35000 Reichsmark kaufte, war an Pariser Preisen gemessen unglaublich billig.
Auf der Straße konnte man sich in Paris damals als Deutscher schon wieder völlig frei und ungeniert bewegen und auch in den Restaurants, auf die wir nach Auflösung unseres Kasinos angewiesen waren, war man keinerlei Belästigungen ausgesetzt, sofern man sich selbst manierlich benahm. Man musste nur gewisse Dinge vermeiden, die in Paris jeden sofort als Deutschen erkennen lassen, zum Beispiel, dass man vom Kellner in dem Restaurant, in dem man zu 6 Männern am Tisch sitzt, verlangt, dass er 6 verschiedene Rechnungen bringt und dann womöglich noch lange daran herum rechnet und schließlich Abänderung verlangt, weil 1,25 Fr. versehentlich mir angeschrieben sind, die eigentlich auf die Rechnung meines Tischnachbarn gehören. (Schau mal einer an, da haben sich die Deutschen – leider – nicht sehr geändert. Naja, vielleicht ein bisschen? Ich hoffe!) Kam man irgendwo mit Franzosen ins Gespräch, so machten wir uns öfters das Vergnügen, sie raten zu lassen, welcher Nationalität wir angehörten. Das Ergebnis war stets das gleiche: sie rieten alle Nationalitäten der Erde durch, aber sie waren zu feige oder zu höflich, uns etwa ins Gesicht zu sagen, dass sie uns für Deutsche hielten. Ein Mädchen englischer Herkunft in einem Montmartrelokal, dem ich gesagt hatte, ich sei Deutscher, erklärte kurzentschlossen: „Show me your feet!“ Und als sie meinen leidlich anständigen Maßschuh sah, meinte sie es sei völlig ausgeschlossen, dass ein Deutscher solche Schuhe trüge. (Und auch das hat sich nicht wesentlich geändert.) Im selben Lokal nachts dicht gedrängt, während alles auf die Mäntel wartet: ein stark betrunkener französischer Offizier schreit plötzlich los: „Il ya des boches ici! Ou sont ils? Il faut les tuer, les boches!“ Es war nicht sehr angenehm, aber wir sahen uns mit den anderen wütend nach den Boches um, und als niemand sie entdecken konnte, beruhigte sich alles schnell wieder. Der prächtige alte Guide in der Ste. Chapelle, der mir alles sehr schön gezeigt und erklärt und dafür von mir einen entsprechenden Obolus erhalten hatte, fragte – offenbar um mir eine besondere Freude zu machen: „Monsieur est Anglais, n’est-ce pas?“ Als ich erwiderte: „Non, je suis Allemand“, war er einen Augenblick sprachlos, dann sagte er langsam und mit einer unnachahmlichen Geste großmütigen Verzeihens: „O Monsieur, ca ne fait rien!“ (Das macht doch nichts)
Der Gang der Reparationen
Neben den sachlichen und mehr technischen Verhandlungen gingen die großen politischen Verhandlungen darüber, was Deutschland bezahlen konnte und wie es seine Schulden bezahlen sollte, unentwegt weiter. Im Dezember 1920 begann es damit, dass die Engländer und Belgier durchaus von Staatssekretär Bergmann einen ausgearbeiteten Vorschlag, einen Zahlungsplan, haben wollten. Sie wussten, dass er voller Ideen war und das wollten sie, die unglaublich fantasielos waren, sich zunutze machen. Jeder Vorschlag unsererseits war ein sehr heißes Eisen. Die Franzosen waren gar nicht scharf auf einen Plan, weil sie der Ansicht waren, dass die Zeit für sie arbeitete und dass sich Deutschlands Leistungsfähigkeit mit der Zeit steigern würde. Sie schlugen deshalb zunächst ein Provisorium mit 5 Jahreszahlungen a 3 Milliarden Reichsmark vor. Auch Provisorien waren für uns gefährlich, weil sie zu leicht aus reiner Bequemlichkeit zu Definitiven gemacht werden konnten. Damals in den ersten Januartagen 1921 übernahm Briand das Ministerpräsidium und von nun ab wurde die Behandlung der Reparationsfrage zu einem großen politischen Schachergeschäft. Glaubten die Engländer aus irgendeinem Grunde, den Franzosen gefällig sein zu sollen, so kamen fantastische Reparationszahlungen zur Sprache. Standen sie den Franzosen gerade kühl gegenüber, so brachten sie Reparations-Vorschläge, die immerhin für uns diskutabel waren.
Anfangen tat die Sache mit einem vom Obersten Rat der Alliierten gemachten Vorschlag, Zahlungen von jährlich 2 bis 7 Milliarden Goldmark auf 42 Jahre zu verteilen und außerdem von jeglichem Export eine Abgabe von 12 ½ Prozent zu leisten. Sie berechneten, dass das einem sofort zu zahlenden Kapital von 53 Milliarden GM (Goldmark) gleichkam.
Und die aufgewühlte Reaktion der Deutschen, hier in einer Mitteilung von Bergmann und Mutius an die deutsche Politik:
Auf der Konferenz in London im März 1921 bot Simons (deutscher Außenminister) grundsätzlich 50 Milliarden an, darauf erfolgte das Londoner Ultimatum: Annahme der Pariser Vorschläge mit 42 Annuitäten (jährliche Zahlungen) und Exportabgabe oder Besetzung von Düsseldorf und Duisburg und 50% Exportabgabe. An dem Tage, an dem das Ultimatum ablief, bot Simons in London notgedrungen ein fünfjähriges Provisorium an und blieb fest. Der Bruch war da!
Diese nächsten Tage waren von einer unerhörten Spannung. Plötzlich verlangten die Feinde, während schon die Truppen nach Düsseldorf marschierten, von uns aufgrund des Friedensdokumentes die sofortige Zahlung einer Milliarde GM. Als ob so etwas überhaupt von heute auf morgen möglich wäre! Auch die amerikanische Regierung wurde von Deutschland aus noch eingeschaltet. Das heißt es wurde versucht, einen für uns halbwegs annehmbaren Rep.Plan über Washington an die Alliierten zu bringen. Schließlich kam der 27. April heran.
Am 27.4. 21 abends 08:00 Uhr wurde ich von der Repko angerufen und gebeten, sofort zu einer Sitzung zu kommen. Ich fuhr mit dem Dolmetscher Grabowski hin, nachdem ich vergeblich versucht hatte, mit Rücksicht auf die Tageszeit die Verschiebung der Sitzung auf den nächsten Morgen zu erreichen. Als ich ankam, wurde mir mit größter Verlegenheit mitgeteilt, die Kommission sei mit den Vorbereitungen noch nicht ganz fertig, ich möchte doch noch kurze Zeit warten. Das wollte ich nicht, aber ich sagte den Leuten ich stände zu Hause auf Abruf bereit. Um 10 kam dann der Anruf, sie wären so weit. Als ich erschien, war die gesamte Entente vollzählig versammelt. Vertreter von mindestens 24 Staaten, dazu eine Menge kleiner Leute, Sekretäre usw. Alles erhob sich, als der Angeklagte den Saal betrat. Dubois (Vertreter Frankreichs und Präsident der Kommission) blieb gleich stehen, um mit seiner Ansprache zu beginnen. Er teilte in seiner unendlich trockenen Art mit, die Reparationskommission habe aufgrund der Verhandlungen der letzten Wochen die Reparationszahlungen Deutschlands nunmehr auf 132 Milliarden GM festgesetzt.
In einem Brief an den Vater meint Detel: eine höhere Zahlung ist wohl noch nie in der Weltgeschichte einem Menschen präsentiert worden. Ein trauriger Ruhm, auf den ich gern verzichten würde. Hoffentlich ist in deutschen Zeitungen mein Name nicht so oft genannt wie in den französischen, diese vermelden zum Teil unrichtige Angaben.
Es solle über die Art der Zahlung, also den Zahlungsplan, am 29.4. – also in 2 Tagen eine „Audition“ der deutschen Vertreter stattfinden. Das schien mir im Moment reichlich kurzfristig, ich konnte es aber so schnell nicht übersehen und behielt mir deshalb alle Erklärungen vor. Außerdem erbat ich schriftliche Bestätigung des Mitgeteilten. Das wurde mir zugesagt und damit war die Sitzung geschlossen. Nach Beratung mit Bergmann erbat ich telegrafisch in Berlin die Erlaubnis, die Einladung zum 29. abzulehnen, was auch prompt genehmigt wurde. Es war das erste Mal, dass wir einfach nein sagten! Die Zeitung Excelsior rief am nächsten Tage bei mir an und bat um eine Unterredung. Als ich erklärte, ich könnte noch nichts Neues sagen, brachten sie prompt „mein“ Bild, das heißt das Bild eines scheußlichen alten Knoten mit langem weißem Bart und Brille.
Der 1. Mai wurde von der ganzen Welt als kritischer Tag erster Ordnung angesehen. Alles erwartete für diesen Tag weittragende neue Entschlüsse der Alliierten in der Rep-Frage. Es geschah aber nichts, nicht einmal der Zahlungsplan von der Repko kam, den sie erwarteten. Da ging ich zu dem französischen Delegierten Mauclère, um ihn über das Zustandekommen der 132 Milliarden GM zu interpellieren (zu einer Erklärung auffordern). Er gestand mir, die Sache habe sich so abgespielt, dass aufgrund unserer Verhandlungen die Delegierten jeder Nation sich die Einzelziffern für ihr Land und für jede Schadensgruppe berechnet hätten. In gemeinsamer Sitzung hätte dann jeder seine Zahl genannt, es sei dann aber nur noch über die Gesamtzahlen, nicht mehr über Einzelansprüche der Länder gestritten, diese Einzelansprüche seien überhaupt nicht festgestellt worden. Ich sagte dem Mauclère ferner, es schiene uns, als würde augenblicklich in London ein Zahlungsplan ausgearbeitet, den die Repko uns nachher würde werde auferlegen müssen. Damit hatte ich aber stark ins Fettnäpfchen getreten, er erklärte mir sofort, die Repko sei „un tribunal“, das sich um Londoner Beschlüsse nicht zu kümmern habe, „elle n’acceptera jamais“ (sie werde niemals akzeptieren) eine Weisung von dort. Am nächsten Tage bereits stand in der Zeitung, dass die Repko die Weisung erhalten habe, sich sofort nach London zu begeben. Bereits nach 24 Stunden waren sie wieder da, um uns „ihren“ Beschluss, (der ihnen in London übergeben war, offenbar ohne Diskussion) zu notifizieren. Wieder abends um 10:00 Uhr ganz feierliche Aufmachung: mindestens 50 Männer auf der Gegenseite, alles im Gehrock oder Cutaway, ich allein im Straßenanzug (da die Sache für mich nichts Feierliches hatte). Es war Himmelfahrtstag, der 5. Mai 1921. Der alte Dubois erklärte mir, die Repko habe festgesetzt, dass die Rep.Schuld von Deutschland in laufenden festen Annuitäten von 2 Milliarden GM und mit einer Exportabgabe von 26% beglichen werden solle. Keinerlei zeitliche Begrenzung! Dubois erhob sich, um mir das Schriftstück zu übergeben, ich erhob mich auch, so standen wir uns gegenüber, etwa 4 Meter auseinander – er dachte wohl, ich würde es mir holen, ich dachte mir, er kann es mir ja bringen. Schließlich hatte Sir John Bradbury ein Einsehen, nahm ihm das Schriftstück aus der Hand und so wanderte es von Hand zu Hand an dem halbrunden Tisch der Hauptdelegierten bis zur Anklagebank, wo Grabowski es in Empfang nahm, um es mir auszuhändigen. Die Sitzung war geschlossen.
Die teuflischen Einzelheiten des Plans kamen erst bei näherem Studium zutage: Einsetzung eines Garantiekomitees, das die Garantien zu überwachen hatte, die wir für die Ausführung des Plans zu stellen hatten, auch Verpfändung sämtlicher Zölle und Ein- und Ausfuhrabgaben! Oder anderer direkter oder indirekter Steuern, die wir vorschlagen und die das Garantiekomitee akzeptieren würde.
Wir haben schon damals allen diesen wahnsinnigen Dingen nur eine beschränkte Lebensdauer zugebilligt. Wenn man aber hätte ahnen können, wie kurz diese nachher tatsächlich sein würde, hätte man sich noch viel weniger über die Dinge erregt. Von der Exportabgabe wollten die Feinde schon nach ein paar Wochen nichts mehr recht wissen. Unsere ganze Tätigkeit in den nächsten Jahren bestand aus immer neuen Beratungen über Zahlungspläne – als ob nicht der ein für alle Male gültige Plan mir mit unendlicher Feierlichkeit überreicht worden wäre!
Es war eine wild bewegte Zeit: Nach endlosen Mühen kam in Berlin ein neues Kabinett zustande mit Wirth als Kanzler und Rathenau als Aufbauminister. Im August 1921 wurde Matthias Erzberger, eine der unerfreulichsten Erscheinungen der sogenannten Systemzeit, ermordet. Am 31. August zahlten wir an die Repko eine Milliarde GM auf Heller und Pfennig! Anfang September 1921 hatten wir eine ganz große Sensation: der Ministerpräsident Briand bat den Botschafter Meyer zu sich und bot ihm in aller Form eine Verständigung mit Deutschland auf der ganzen Linie an, und zwar mit den Worten: Nous sont les dupes des Anglais, nous et vous! (Wir sind die Betrogenen der Engländer, wir und ihr) Als Meyer erwiderte, eine solche Neuorientierung der Politik wäre doch nur denkbar, wenn ihre Grundlage – also der Friedensvertrag – völlig geändert würde, hatte Briand geantwortet: „C’est absolument mon avis!“ (das ist absolut meine Meinung) Das war das erste Mal nach dem Weltkrieg, dass sich ein auswärtiger Staat ganz offiziell um uns bewarb und wir empfanden das als ungeheuren Fortschritt. Wir waren aber damals in Paris – und darin waren wir uns völlig einig mit der Berliner Leitung unserer Auswärtigen Politik – felsenfest davon überzeugt, dass wir uns unter keinen Umständen durch die Franzosen von England abdrängen lassen oder gar mit Frankreich gegen England gemeinsame Sache machen durften!
Etwa von Oktober 1921 ab hatte die Repko erkannt, dass wir trotz aller von Berlin zur Schau getragenen Erfüllungswilligkeit tatsächlich nicht erfüllen wollten und würden. Im November ging die Repko nach Berlin und es begann ein ungeheures Tauziehen, ein erbittertes Ringen um jede Monatszahlung. Schließlich bekamen wir nach solchen Beratungen dann in der Regel einen Brief von der Repko, wir müssten unter allen Umständen bezahlen, und dann zahlten wir zunächst einmal einen kleinen Betrag, um sofort wieder mit Verhandlungen zu beginnen. Die Franzosen verlangten vor allem immer Garantien, darauf waren die Engländer gar nicht scharf, unsere ganze Politik konnte nur darin bestehen, dauernd einen Bundesgenossen gegen den anderen auszuspielen und es mit keinem zu verderben und uns keinem endgültig zu verschreiben.
Hier als Beispiel für das Geschacher die Aufzeichnung einer Besprechung zwischen dem Staatssekretär Fischer und dem französischen Vorsitzenden der Garantiekommission, Herrn Mauclère, November 21:
[1] Günter Gleising: „Kapp-Putsch und Märzkämpfe in Mecklenburg und Pommern 1920“
[2] https://taz.de/Kaempfer-und-Rebell/!1798247/