Das Jahr 1915 beginnt ruhig. So ruhig, dass Du Besuch empfangen kannst. Ganz unverfänglich (die verfänglichen Dinge stehen hier eh nicht drin) von Bruder Willi. Das zwei-tägige Besuchsprogramm besteht aus Spazieren gehen und reiten.
Kaum ist Willi wieder weg, versinkt Roggen in Schnee und Matsch. Knöcheltief waten Deine Männer darin, wenn sie auf Patrouille gehen.
Ende Januar zieht die Schwadron um auf die feindliche Seite. Du richtest Dich ein in einem kleinen Häuschen, immer zu zwei und zwei pro Zimmer, außerdem ein großes Esszimmer und eine gemeinsame Wohnstube. Mit einem für russische Verhältnisse ganz wohlklingenden Klavier, das jeden Abend von ein bis zwei Leuten ganz intensiv genutzt wird.
Du kannst von Glück sagen, Großvater, dass Du Offizier bist und nicht, wie so viele andere Soldaten, in einem Massenquartier unterkommen musst. Und dass Du eine Familie hast, die Dir warme Handschuhe und einen selbst geschossenen Fasan schickt. Der Dienst ist nicht wirklich anstrengend, und es ist schwierig, so viel Abwechslung hinein zu bringen, dass er nicht eintönig wird und die Leute dadurch unaufmerksam werden. Die Aufmerksamkeit ist hier alles, was nötig ist. Wir haben uns fest vorgenommen, alles, was in unseren Kräften steht zu tun, um ohne Verluste zu arbeiten. Wir haben für alle Patrouillen so viel Zeit, dass wir mit aller Vorsicht vorgehen können, so dass es nach menschlichem Ermessen nur ein ganz unwürdiger Zufall sein kann, wenn wir Verluste haben. Das darf aber nicht sein, denn mehr ist das ganze Unternehmen hier nicht wert. Das rechne ich Dir hoch an, Großvater, dass Du offenbar das Menschenleben eines jeden Dir Anvertrauten als höher erachtest als den Krieg. Das klingt schon ganz anders als die euophorischen Zeilen noch vor ein paar Monaten!
Zu Pferde kann man sich leider nur sehr wenig bewegen. Die ganzen Verluste, die die Schwadron in der letzten Zeit gehabt hat, sind auf unvorsichtiges Hineinreiten in Dörfer zurück zu führen, bei denen vorher nicht genau festgestellt worden war, ob sie besetzt sind oder nicht.
Du marschierst bei Schnee und Eis wieder zurück auf deutsches Gebiet, nach Ostpreußen (heute Polen). Rembielin, Radostowen, Friedrichshof, Bialla, Augustow, Langsee sind so Namen. Höchstens ein Drittel von denen klingen deutsch. Orte, die von den Russen stark in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Wir werden überall als erste deutsche Soldaten seit drei Monaten rührend begrüßt. Nirgends Hafer. An menschlicher Nahrung nur Kartoffeln. Da die Russen die Bahn benutzen, wird sie von deutschen Unteroffizieren kurzerhand gesprengt. Wir bleiben in Langsee und ernähren uns weiter von Kartoffeln.
Bei Wischniewen kommt es zum Kampf. Die Deutschen müssen vor dem übermächtigen Feind zurückweichen – so das in metertiefem Schnee überhaupt geht. Die Schwadron bekommt den Auftrag, bei Augustow die Bahn zu sprengen, um den Russen den Rückzug abzuschneiden. Ich gehe mit 15 Mann nach Woznavies zur Erkundung der dortigen Übergänge. Als ich zu Fuß vom Walde aus dagegen vorgehe, kommen aus diesem hinter uns einige feindliche Reiter. Ich schieße ein Pferd tot, reite dann mit 2 Mann gegen Woznawies vor. Uns begegnet ein feindlicher Meldereiter, dem ich das Pferd totschieße, worauf er sich gefangen gibt. Da Woznawies besetzt ist, kehre ich mit meinen Leuten heim nach Lazarze zur Schwadron. Wir bekommen abends endlich mal wieder Fleisch zu essen. Ich nehme an, Pferdefleisch.
Die Sprengung der Bahnschienen gelingt. Dann tagelange Kämpfe. Und die Nachricht: Gerd Bassewitz fällt an der Nosrojow-Schleuse.
Diese Internetseite dient heute allen gefallenen Kameraden von Dir, auch Gerd, als virtuelle Erinnerungsstätte: http://denkmalprojekt.org/2012/vl_kuerassier-reg-koenigin-nr2_wk1.html. Das Foto von Gerd stammt von dieser Internetseite.
Du bist nicht dabei, als Dein Vetter fällt. Die Brücke, die Gerd besetzen will, ist stark bewacht. Die Russen feuern auf jeden, der sich ihr nähert. Der Schuss, den Gerd abbekommt, trifft eine Hauptader. Als seine Leute ihn wegtragen, verliert er so viel Blut, dass der Arzt nichts mehr retten kann. Wie wird seine schwangere Frau den Verlust aufnehmen? Du zuckst hilflos mit den Schultern. Es ist hier furchtbar schwer, sich in die Empfindungen der Angehörigen daheim hineinzudenken. Man stumpft gegen die Schrecken des Krieges fabelhaft ab. Man hat auch keine Zeit – Gott sei Dank – viel über so traurige Fälle nachzudenken, und so kommt es, dass auch der Tod sehr nahe stehender Menschen nur geringen Eindruck hinterlässt. Wer alles fehlt, das wird einem erst klar zum Bewusstsein kommen, wenn man nach Hause kommt, und die Lücken sieht. Deshalb kann ich mich auch noch nicht entschließen, an Gerds Frau oder an die Bristower zu schreiben. Alles was ich sage, muss teilnahmslos klingen, und es kann für euch nicht möglich sein, sich in dies Gefühl hineinzudenken. Von mir selbst kann ich nur sagen, dass, wenn ich hier fallen sollte, ich auf dem Höhepunkt meines Lebens falle, und das ist eigentlich das Beste, was einem Menschen passieren kann.
Detel, Du bist 28 Jahre alt. Da haben andere längst Beruf und Familie. Das kommt bei dir zum Glück noch alles. Was wäre das für ein jämmerlicher Höhepunkt eines Lebens?!
Fast 30 Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, schreibst Du an Deine Frau über den Tod Deines gefallenen Neffen Fritjof, Willis Sohn, und denkst darüber nach, wie Du als junger Soldat im Ersten Weltkrieg mit dem Leid umgegangen bist, das der Tod eines nahe Stehenden mit sich bringt: Damals war man jung, und wenn man jung ist, dann wehrt man sich dagegen, sich vom Leid beeindrucken zu lassen, das überlässt man willig den Älteren und stirbt lieber selber anständig und ohne viel Aufhebens davon zu machen. Zum Teil liegt das wohl daran, dass man als junger Mensch noch kein bestimmtes Lebensprogramm hat; wenn man älter wird, so hat man immer mehr Wünsche und Ziele, und alles Leid bedeutet, dass einem von diesen Wünschen und Zielen irgendetwas zerschlagen wird, und dagegen bäumt man sich dann wütend auf.
Das erklärt mir etwas besser, warum der Tod im Jahr 1915 keinen großen Eindruck auf Dich macht.
Jetzt jedoch geht es gnadenlos weiter, nach Osten, ohne Ruhepause. Tagsüber wird gekämpft, nachts wird irgendein armes, noch nicht allzu ausgeplündertes Dorf überfallen, damit wenigstens die Herren Offiziere sanft schlafen können. Vor zwei Wochen hast Du Dir das letzte Mal ein frisches Hemd angezogen, Du wirst es noch eine Weile tragen. Daran gewöhnt man sich aber. Augustow ist genommen, jetzt wird Grodno angegangen (heute Weißrussland). Oder doch nicht? Tagelang lässt sich kein Befehlshaber auftreiben, Du irrst stundenlang umher, um jemanden zu finden, der Dir sagen soll, was zu tun ist. Schließlich bekommst Du Telefonanschluss zur 4. Kavallerie-Division, die uns befiehlt, in Krasne zu bleiben und die Division über die dortigen Vorgänge auf dem Laufenden zu halten.
Die Deutschen machen eine Menge Gefangener. Sechs russische Generäle und rund 90.000 Gefangene werden hier in Krasne bei Augustow in den nächsten Tagen eingeliefert, und es werden noch mehr.
Einen sehr liebenswürdigen Brigadegeneral luden wir uns zum Tee ein und ließen uns viel Interessantes von ihm erzählen. 10 Tage hatten sie sich mit ihrem Armeekorps im Augustower Walde herumgedrückt und endlich nichts mehr zu essen und zu schießen, und vorgestern hatten wir den eisernen Ring glücklich so weit geschlossen, dass kein Entrinnen mehr war. Einige wütende Durchbruchsversuche nach Frodno wurden unter furchtbarem Morden abgewiesen und jetzt scheint der Wald gesäubert und eine riesige Beute in unseren Händen zu sein. Ein zweites „Tannenberg“!
Ganz schön breitbeinig, wie Du redest, Großvater. Und wie lässig Deine Mitteilung an Schwester Leni: Ich schicke dir gelegentlich ein Koppelschloss, das ich einem von ihnen abnahm. Wenn du magst lasse es dir vergolden oder versilbern, ziehe einen passenden Gürtel hinein und betrachte das Ganze als Geburtstags-geschenk.
Ob sie diesen Gürtel je anzieht? Bestimmt. Und ich schätze mal, dass ihre Freundinnen sie sogar darum beneiden.
Du aber hast kaum Zeit, den Erfolg zu genießen. Ihr werdet hin und her geschickt, Kilometer weite Märsche, Kämpfe, Schützengraben wie in Frankreich. Du bist erkältet, und Du hast einen Flohstich am Fuß, der sich entzündet und Dich quält. Erst Anfang März bekommt ein Arzt den Fuß zu sehen und verweist Dich gleich hinter die Front. Mit Auto und Zug reist Du nach Allenstein, und kannst Dich hier endlich erholen.
Du telegrafierst nach Hause, dass Du besuchsfähig bist, und Vater Fortunatus und Schwester Leni zögern nicht, sie kommen. Das geht mir ans Herz. Ein paar Tage sind die beiden bei Dir, ihre Reise wird länger gedauert haben als der Aufenthalt. Deine Wunden heilen nur langsam. 2 Wochen hockst Du noch im Hotel, dann wirst Du beurlaubt und darfst nach Hause, nach Schwerin.
Zwei Wochen bist Du zuhause, dann musst Du wieder rein in die Hölle – oder vielmehr: Höhle. Denn in Höhlenwohnungen hausen die Soldaten in den Masuren inzwischen.
Offenbar selbstgegrabene Löcher in der Erde, beheizbar. Sie liegen dicht hinter unseren Schützengräben, davor auf etwa 200 Meter ein großer Trümmerhaufen, die Reste des großen und hübschen Dorfes Pupkozizna, wo ich vor 5 Wochen das Regiment verließ. Die Unterstände sind die Behaglichkeit selbst. Wände, Decken und Fußböden stark mit Brettern verkleidet, Tische, Stühle, Ofen und Strohlager, kurz alles was man zum Leben braucht.
Nachts wanderst Du als Wachthabender vor den Schützengräben herum, 800 Meter weiter liegt der russische Feind. Beleuchtet wird das ganze von einem ununterbrochenen Feuerwerk aus Leuchtkugeln und Scheinwerfern.
Tagsüber ist es meist friedlich, die Abwechslung besteht darin, in einem kleinen Fluss zu baden oder auf der Dorfstraße Fußball zu spielen. Und, zum Tanz in den Mai, Maibowle zu trinken. Aber irgendetwas ist im Schwange, Du weißt nicht was. Sollt ihr bleiben, oder nicht? Anfang Mai wird dann Hals über Kopf das komplette Regiment in die Eisenbahn verladen. Bestimmungsort unbekannt.
Zwei Tage geht es mit der Bahn gen Nordost. An der Memel macht sie Halt und spuckt ihre feldgraue Fracht aus. Die muss nun laufen, zwei weitere Tage Gewaltmarsch, dann seid ihr da, wo ihr hin sollt: in Kurland.