Da denken wir, dass wir uns heutzutage in schwierigen Zeiten befinden und haben auch noch Recht damit – aber was waren das für Zeiten vor 100 Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg!?
1919: Wir befinden uns in einem völlig wirren Deutschland voller Unruhen, Aufstände und Morde. Der Krieg ist vorbei und verloren, und weil die deutschen Generäle der Obersten Heeresleitung das nicht akzeptieren können, erfinden sie die Legende vom „Dolchstoß“. Feinste Verschwörungstheorie, 100 Jahre alt. Sie besagt, dass das Heer „im Felde unbesiegt“ gewesen sei. Schuld an der militärischen Niederlage hätten linke Oppositionelle, Sozialdemokraten und andere demokratische Politiker sowie das „bolschewistische Judentum“.
Die goldenen Zwanziger sind noch Jahre entfernt, die Menschen kämpfen mit den Nachwehen des Krieges, sie hungern, sind arbeitslos, haben keine Perspektive. Der Glaube an ein Deutschland, das besser ist als alle anderen Länder und so glorreich und heldenhaft und siegreich, wie ihnen das jahrelang vorgesungen wurde, der ist ihnen gründlich ausgetrieben worden.
Gerade erst, im November 1918, wurde die Weimarer Republik ausgerufen. Im Januar wird die Deutsche Nationalversammlung ins Leben gerufen, zum ersten Mal dürfen Frauen in Deutschland wählen. Gleich im Februar wählt die Nationalversammlung einen Reichspräsidenten, Friedrich Ebert, ein Sozialdemokrat. Er ernennt die Regierung, samt Ministern – der erste Versuch, in diesem Land eine Demokratie einzurichten! Nach einer langen Zeit der Monarchie regieren plötzlich bis zu 15 Parteien im Reichstag. Die Mehrheit bildet eine Koalition aus SPD, Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei). Und es gibt auch wieder einen Reichskanzler. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gründen die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands. Nur zwei Wochen später werden sie von Soldaten ermordet.
Heute ist uns die Demokratie selbstverständlich und lieb und teuer – 1918 findet sie viele Gegner unter den Deutschen. Vor allem diejenigen, die vorher im alten System das Sagen hatten, sind gegen die Weimarer Republik. Klar, wer seiner Macht beraubt wird, wehrt sich gegen das neue System. Dazu gehört der Adel, das Militär, die Verwaltung. Drei Systeme, denen Detel angehört. Er ist jung, naja, 32, also im Gegensatz zu seinem Vater jung. Die alte adelige Väter-Generation ist komplett gegen die Weimarer Demokratie. Ihre Welt ist im Untergang begriffen, mit der Weimarer Verfassung wird der Adel als eigener Stand mit Titeln und Privilegien abgeschafft. Das „von“ ist Teil des bürgerlichen Namens und darf behalten werden, mehr nicht. Das wird niemandem aus dem ganzen Dunstkreis der Familie gefallen haben. Aber, um es noch einmal deutlich zu machen: Detel ist stockkonservativ, er ist anti-demokratisch, er hasst den Kommunismus, er mag keine Arbeiter und sieht in jedem einen Kommunisten. Abgesehen davon, dass er, schätze ich, nach diesem verlorenen Krieg sehr sehr enttäuscht ist, dass sein Einsatz in den letzten vier Jahren nicht mehr Sieg und Macht gebracht hat – nicht fürs Vaterland und nicht für ihn selbst.
Wie knüpft man an ein Leben an, das vier Jahre vorher brutal unterbrochen wurde, durch den Krieg. Und das damals unter vollkommen anderen Bedingungen stattgefunden hat als jetzt, nach dem Krieg.
Aus der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg gibt es von Detel keine Aufzeichnungen, Briefe oder ähnliches. Ich kann nur vermuten, dass er sich – wie alle – bemüht hat, wieder Land unter den Füßen zu bekommen, sprich: Kontakt zu Freunden und Familie aufzunehmen, sich wieder zurechtzufinden, einen Job zu finden.
Im Januar 1919 beginnt Detel in der Kommunalverwaltung zu arbeiten, erst in der Kreisstadt Güstrow südlich von Rostock, dann in Grevesmühlen, ein Stück weiter gen Westen. Er betreut das Polizeireferat und einige andere Abteilungen.
Wie allen Deutschen macht ihm die Umsetzung des Versailler Vertrages zu schaffen. Vor allem der „Kriegsschuldartikel“ 231. Darin steht, dass Deutschland allein die Verantwortung für diesen Krieg habe, dass es den Alliierten den Krieg „aufgezwungen“ habe und für „alle Verluste und alle Schäden“ aufkommen müsse. Bis zuletzt waren die Deutschen dank einer permanenten Propaganda überzeugt, dass dieser Krieg ein reiner Verteidigungskrieg sei, der nur mit einem großen Sieg enden konnte, und der würde die Vormachtstellung Deutschlands in Europa endgültig sichern bzw. gleich zur Weltherrschaft führen.
Mit diesem Friedensvertrag tritt, schreibt Detel, alles andere in den Hintergrund vor der namenlosen Schmach und Schande, die uns tagtäglich unsere äußeren Feinde mit einer unglaublichen Brutalität antun. Sind wir als Sieger auch so brutal gewesen? Ich glaube doch nicht.
Ich glaube doch, lieber Großvater.
Im Juni 1919 unterzeichnen die Deutschen unter Protest diesen Friedensvertrag. Und weil der wichtig ist für die Zeit und speziell für Detels Biografie, werfen wir nochmal einen genaueren Blick darauf:
Exkurs: Versailler Vertrag
Im Pariser Vorort Versailles beraten etwa 10.000 Teilnehmer aus mehr als 30 Staaten der Alliierten und assoziierten Mächte in 58 Ausschüssen in 1646 Sitzungen, um einen Friedensvertrag zustande zu bringen. Außer Deutschland dürfen auch die übrigen Mittelmächte (Österreich-Ungarn, Bulgarien, Türkei) und Russland nicht daran teilnehmen. Die Entscheidungen trifft am Ende ein Rat der 10 und später der 4 – Wilson (USA), Clemenceau (Frankreich), Lloyd George (Großbritannien) und bis kurz vor Schluss der italienische Premier Vittorio Emanuele.
Die Franzosen fahren die deutsche Delegation mit Sonderzügen durch völlig zerstörte Regionen in Frankreich, damit die Mitglieder mit eigenen Augen sehen, was der Weltkrieg hier angerichtet hat. Frankreichs Premierminister George Clémenceau erklärt den Deutschen ganz unverblümt, worum es geht: Angesichts der Opfer des Krieges sei man entschlossen, „sämtliche uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen.“
Die Franzosen vertreten anfangs den extremsten Standpunkt, sie fordern: Deutschland muss zerschlagen, sein Potential zur europäischen Großmacht für immer zerstört, alle Gebiete links des Rheins müssen abgespalten werden. Damit kann sich Frankreich allerdings nicht durchsetzen, vor allem der englische Premier David Lloyd George und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson befürchten, dass Frankreich sonst zu viel Macht in Europa bekommen würde. Die Interessensgegensätze können kaum größer sein, die Handlungsspielräume kaum kleiner, am Ende aber setzt man den Deutschen einen Vertrag vor, den sie annehmen müssen.
Was im Vertrag drin steht:
- Deutschland verliert 72 068 Quadratkilometer seiner Fläche, das sind 13%
- Deutschland verliert damit 6,5 Millionen Einwohner, das sind 10%
- Elsass-Lothringen, 1871 annektiert, fällt an Frankreich zurück
- das Saargebiet wird einer Kommission des Völkerbundes unterstellt, die dortigen Kohlegruben werden für 15 Jahre Frankreich zur wirtschaftlichen Nutzung überlassen
- das linksrheinische Gebiet bleibt für 5 bis 15 Jahre von alliierten Truppen besetzt, rechts des Rheins wird eine 50 Kilometer breite entmilitarisierte Zone eingerichtet
- der größte Teil Westpreußens, die Provinz Posen, Teile von Ostpreußen und Hinterpommern müssen an Polen abgetreten werden. Danzig wird freie Stadt unter Völkerbundkontrolle. In diesen Gebieten lebt nun eine deutsche Minderheit[1]
- das Memelland wird zunächst dem Völkerbund unterstellt und 1923 Litauen zugesprochen
- Nach einer Volksabstimmung geht Nordschleswig an Dänemark
- Deutschland verliert alle seine Kolonien
- die allgemeine Wehrpflicht wird aufgehoben, das Heer auf hunderttausend Mann begrenzt, die Marine auf 15.000. U-Boote, Luftwaffe und schwere Waffen sind verboten. Eine internationale Militär-Kontrollkommission überwacht die Einhaltung der Bestimmungen
- Deutschland soll umfassende Reparationen leisten, die genaue Höhe ist im Vertrag aber noch nicht geregelt. Genau das wird Detels Spezialgebiet
- Kaiser Wilhelm II soll wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes unter öffentliche Anklage gestellt werden, allerdings verbringt er seine Altersjahre dann ungestört im niederländischen Exil.
Vertreter aller deutschen Parteien sind sich einig: der Friedensvertrag von Versailles ist ein „Schmachfrieden“. Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann, Sozialdemokrat, findet ihn „unerträglich“, und tritt zurück. Diesen Vertrag will er nicht unterzeichnen: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“ sagt er. Heute wissen wir: Der Versailler Vertrag war hart, aber nicht hart genug, um Deutschland langfristig zu schwächen. Das Land hatte die Chancen, wieder stark zu werden.[2]
Die wirtschaftlichen Verluste der Reparationszahlungen sind enorm: ein Drittel der Kohlenvorkommen muss Deutschland abgeben, außerdem drei Viertel der Erzvorkommen. Lange werden sich die Alliierten nicht einigen können, wie hoch die Reparationskosten sein sollen, 1921 einigen sie sich auf 132 Milliarden Goldmark – heute wären das rund 300 Milliarden Euro.
Detel wird bei den zähen Verhandlungen um die Anzahl an Milchkühen, Goldmark und Telegrafenmasten dabei sein und davon einiges zu berichten haben, ganz frisch aus Paris. Aber eins nach dem anderen. Jetzt kommt erstmal: 1920.
[1] In Oberschlesien sollten nach dem Versailler Vertrag Teile des Grenzverlaufs zwischen Polen und Deutschland über Volksabstimmungen geregelt werden. Bei einer Wahlbeteiligung von sagenhaften 97 % stimmten rund 60 % für Deutschland, rund 40 % für Polen. Nachdem das Abstimmungsergebnis für erhebliche Unruhen in den Gebieten sorgte, entschied schließlich der Völkerbund, eine Grenze zu ziehen, die ungefähr dem Abstimmungsergebnis in seinen Mehrheiten entsprach. Der größere Teil des Industriegebiets mit seinen Kohle- und Erzhütten ging an Polen, was Deutschland wiederum ungerecht fand. Das Kabinett Wirth trat zurück, kam aber bald wieder.
[2] Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Dtv 2004