So kam die Konferenz von Cannes heran. Am 10. Januar 1922 fuhren wir von Paris ab. Rathenau, der deutsche Hauptdelegierte, war tags zuvor von Berlin gekommen, mit einem großen Stab von Ministerialbeamten. Das „Büro“ mussten wir stellen. Schon am Abend des 11. Januar war große Sitzung bei der Repko in Cannes. Das störte Rathenaus Programm insofern, als er sich auf eine Sitzung beim Obersten Rat der Alliierten vorbereitet hatte und sich hüten musste, sein bisschen Pulver vorzeitig zu verschießen. Er löste diese Aufgabe in der ihm eigenen äußerst gewandten Art. Es war wieder eine Riesenversammlung. Dubois stellte zu Anfang 3 ganz präzise Fragen, nämlich 1. was wird Deutschland am 15. Januar und 15. Februar zahlen? 2. Wie viel Zahlungsaufschub hält Deutschland für nötig? 3. welche Garantien bietet Deutschland an? Darauf nahm Rathenau das Wort. Was er sagte, war im Wesentlichen improvisiert. Er besprach jede der 3 Fragen eingehend und beantwortete keine. Das Ganze war eine Rede von mindestens anderthalb Stunden. Ich musste mit einem Franzosen das Communiqué für die Presse redigieren, schlug vor, die 3 Fragen aufzuführen und zu sagen, Rathenau hätte sie eingehend beantwortet, worauf mich der Franzose fragte: Wie hat er sie denn beantwortet? Das wusste ich auch nicht.
Am nächsten Tage war Vollsitzung beim Obersten Rat unter Vorsitz von Lloyd George. Hier hielt Rathenau seine große vorbereitete Rede, er begann auf Deutsch und ließ es verdolmetschen, dann erklärte er plötzlich, das hielte zu lange auf und hielt die Rede selbst auf Englisch und Französisch weiter. Das imponierte den Leuten mächtig, sie hörten höchst andächtig zu. Aber mit der Zeit kam eine eigenartige Unruhe in die Gesellschaft, Sekretäre brachten Schriftstücke, Lloyd George steckte den Kopf zusammen mit den Franzosen und plötzlich bat er um eine kurze Teepause. Wir wurden den großen Leuten der Entente beim Tee vorgestellt, dann wurde die Sitzung wieder eröffnet und Lloyd George teilte mit, dass in Paris das Kabinett Briand gestürzt und dass der oberste Rat infolgedessen beschlussunfähig sei. Rathenaus Rede wurde zwar aus Höflichkeit noch bis zu Ende angehört, aber es war keine Aufmerksamkeit mehr vorhanden. Beim Abendbrot in unserem herrlichen Hotel Du Parc erschien Rathenau und sagte: „Heute gibt es noch Nachtarbeit!“ Es kam denn auch bald Sir John Bradbury bei uns an und 4 von seinen jüngeren Herren. Sie wollten mit uns über den Zahlungsplan reden, aber Sir John erklärte gleich, es hätte wohl keinen Zweck, da eine Verständigung mit den Franzosen doch unmöglich sei. Da unterhielten wir uns dann bis spät in die Nacht hinein mit den Engländern und tranken sehr viel Whisky.
Am nächsten Vormittag traf Bergmann auf der Straße Lady Bradbury. Sie erzählte, ihr Mann habe sehr schlecht geschlafen, aber morgens um 7 sei er plötzlich aus dem Bett gesprungen, sei im Zimmer herum getanzt und habe immer nur gerufen: „Ich hab’s! Ich hab’s!“ und dann sei er schleunigst zu Dubois gelaufen. Das Ergebnis kam bald: Sitzung der Repko, Verkündung des Beschlusses: Deutschland erhält einen provisorischen Zahlungsaufschub unter der Bedingung, dass es alle 10 Tage 31 Millionen GM zahlt und dass es binnen 14 Tagen ein Reformprogramm für seine Finanzen und einen neuen Zahlungsplan vorlegt. Das bedeutet praktisch die Finanzkontrolle der Entente.
Zurück geht es von der Konferenz in Cannes nach Paris im Zug – und zwar gewissermaßen Huckepack, wie Detel im Tagebuch notiert: 7 Uhr abends Abreise in unserem deutschen Schlafwagen, der an den Extrazug der englischen und belgischen Delegation angehängt wird. Fischer nimmt auch mich mit in sein Abteil auf. (13.1.)
Jetzt begann der lang andauernde zähe Kampf um unsere finanzielle Souveränität! Und währenddessen begann unsere Reichsmarke langsam und stetig ihren fürchterlichen Weg bergab. Ende März 22 kostete der Dollar schon 302 Mark, das Pfund Sterling 1322 Mark, der Franc 27. Rathenau war inzwischen Minister des Äußeren geworden und raffte alles an sich.
Am 22. März 22 morgens 02:00 Uhr kam der neue Zahlungsplan der Repko bei uns an. Darin wurde Deutschland auferlegt, bis zum 31.5., also binnen 2 Monaten, neue Steuern in Höhe von 60 Milliarden Mark zu votieren, von denen 40 Milliarden bis Ende Dezember des Jahres beigetrieben werden sollten. Außerdem sollten im Jahre 22 in Bar 720 Mio GM und Sachlieferungen im Werte von 1450 Mio GM geleistet werden. Alle staatlichen Subventionen sollten fortfallen, eine Zwangsanleihe in Aussicht genommen, der Etat ausgeglichen, die Kapitalflucht verhindert, die volle Autonomie der Reichsbank hergestellt und schließlich eine scharfe Kontrolle durch die Repko auf dem Wege über das Garantie-Komitee durchgeführt werden.
Die Befugnisse des Garantiekomitees waren fast das Unangenehmste an der Sache, das ging zielbewusst gegen die deutsche Souveränität und atmete deutlich Poincaréschen Geist! In der deutschen Presse erhob sich das vorschriftsmäßige Wutgeschrei und der Reichstag tat, was er in diesen Fällen zu tun pflegte: er schrie überlaut: Unmöglich! Und dann begann das Verhandeln, diesmal erschien ein richtiger Reichsminister, nämlich der neue Finanzminister Hermes persönlich in Paris. Fast 14 Tage wurde mit der Repko um die Formulierung der Finanzkontrolle gerungen, fast 14 Nächte mussten wir übersetzen und formulieren und telegrafieren. Im Endergebnis wurde aber die Kontrolle im Wesentlichen so zugestanden wie Poincaré sie hatte haben wollen. In unserer Schlussnote, die ich übergab, nachdem Hermes schon im Zuge nach Berlin saß, wurde über die Steuerfrage gesagt, wir „rechneten“ mit einem Ergebnis von etwa 40 Milliarden GM. Das wurde sofort zurückgewiesen. Bradbury bat mich noch abends um 9, ihn in seiner Wohnung zu besuchen und da habe ich wohl 2 Stunden mit ihm wiederum gerungen und formuliert. Er verlangte wenigstens schließlich nicht mehr, dass ich die Note zurücknehme, aber die deutsche Regierung sollte sich in einer Ergänzungsnote verpflichten, die 40 Milliarden GM zusammenzubringen. Ich telegrafierte und die verpflichtende Note kam prompt! Der Kampf ging weiter.
Was außerdem im März 1922 stattfand: die erste internationale Nachkriegs-Konferenz in Genua, bei der Sieger und Besiegte den wirtschaftlichen Wiederaufbau besprechen wollten. Alle wichtigen Politiker reisen nach Genua. Die erstaunlichste Entwicklung dabei geschah am Rande: Große Sensation in Genua. Russland und Deutschland schließen einen Vertrag, in dem sie gegenseitig auf alle Kriegsansprüche verzichten und diplomatische und konsularische Beziehungen wieder aufzunehmen versprechen. Riesenaufregung, die Pariser spielen Wut. Die Sache scheint so gekommen zu sein, dass Lloyd George tagelang nur mit den anderen verhandelt hat, so dass wir schließlich befürchten mussten, dass sie sich mit den Russen hinter unserem Rücken einigen würden. Daraufhin haben wir losgeschossen. Alles ist starr darüber, dass Deutschland immer wagt, einen selbständigen Schritt zu tun.
Der „Vertrag von Rapallo“, in dem Russland den Deutschen die gleichen Handelsbedingungen zubilligt wie allen anderen Ländern. Die Deutschen und die Russen: beide sind sie Außenseiter, politisch wie wirtschaftlich. Jetzt endlich könnte die Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg aufgebrochen werden. Das könnte die Verhandlungsposition der Deutschen gegenüber den Westmächten erheblich stärken. Damit hatte keiner gerechnet, am wenigsten der Chef-Verhandler, Walter Rathenau, Außenminister. Er hatte schon keine Hoffnung mehr, dass die westlichen Siegermächte sich endlich zu einer Zusammenarbeit mit den Deutschen bewegen lassen. Die Siegermächte weigern sich auf der Konferenz, das brennende Problem der deutschen Reparationszahlungen auch nur zu diskutieren. Die Alliierten fühlen sich durch den Vertrag ausgetrickst. Aber auch in Deutschland stößt er auf heftige Kritik, vor allem in den Reihen der äußerst Rechten. Im Fokus der Kritik: Walther Rathenau, der Unterzeichner des Vertrags. Er wird nicht mehr erleben, wie der Vertrag durch den deutschen Reichstag ratifiziert wird: zwei Monate später wird er von rechten Reaktionären ermordet. Detel ist für 2 Wochen zuhause, danach hat er einen Monat Sitzungen in Berlin.
27.6. Berlin
Lieber Vater,
hier steht alles unter dem Eindruck der scheußlichen Mordtat, die uns innen- und außenpolitisch wieder weit zurückbringt und gar nicht schwer genug verurteilt werden kann. Solche völlig überspannten Kerle, die noch glauben, mit derartigen rohen und gemeinen Mitteln ihrem Vaterland dienen zu können, müsste man, wenn man sie fasst, zunächst einmal tagelang verhauen. Ich war gleich nach der Tat im Reichstag. Der Kanzler Wirth schoss mit seinem Temperament in seiner Rede wieder mal weit über das Ziel hinaus. Vorläufig ist ja auch gar nicht erwiesen, dass es sich bei den Mördern um Leute handelt, die den Rechtsparteien nahestehen. Allerdings zweifle ich nicht daran. Ich habe das Gefühl, dass das Hauptempfinden, das der Mord bei den meisten auslöste, wenn sie es auch nicht aussprechen, das war: Gott sei Dank, dass der Jude tot ist.
Wen meint Detel mit „den meisten“? Die Deutschvölkischen, die Deutschnationalen – sprich: die ganz Rechten? Aus ihren Reihen kamen auch die Mörder, sie gehörten der ultrarechten „Organisation Consul“ an, die aus einem Freikorps hervorgegangen ist. Ansonsten hatte Rathenau viele Befürworter. Reichskanzler Joseph Wirth wandte sich in seiner Trauerrede einen Tag nach dem Attentat direkt an die DNVP (Deutschnationale Volkspartei), als er meinte:
„Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“
Noch am selben Tag fanden in den größeren Städten Demonstrationen statt. Allein in Berlin protestierten über 400.000 Menschen gegen das Attentat und demonstrierten für die Weimarer Republik. So viel dazu, lieber Detel.
Von Berlin aus fährt dieser interessanterweise über Hamburg mit dem Schiff zurück nach Paris – über Southampton und Cherbourg. Jetzt taucht auch Bergmann wieder vermehrt auf und mischt wieder mit bei der Reparationskommission. Grund, sich diesen Menschen mal genauer anzuschauen: Carl Bergmann, Staatssekretär, Jurist, Bankier, Diplomat. 8 Jahre älter als Detel, war vor Paris für die Deutsche Bank als Verwalter der Anatolischen Eisenbahn in Konstantinopel (!), war dann für ein Jahr in den USA auf „Studienreise“, dann stellvertretender Direktor der Deutschen Bank, und dann in Den Haag als Finanzdelegierter an der deutschen Botschaft. Wikipedia schreibt über ihn: Nachdem er deutscher Vertreter bei der Reparationskommission war, wurde er Vorsitzender der Kriegslastenkommission. Er war einer der engsten Mitarbeiter der Finanzminister Erzberger und Wirth. Von 1921 bis 22 war er wieder auf Reisen in den USA. Er hatte mit seiner Frau Enriqueta zwei Töchter und einen Sohn. Die beiden Töchter starben nach dem Krieg an Tuberkulose, sein Sohn Carl-Heinz wuchs in den Niederlanden auf, kam im Zweiten Weltkrieg wegen Sabotage bei der Luftwaffe in ein KZ, ihm gelang die Flucht in die Niederlande, wo er bis Kriegsende im niederländischen Widerstand aktiv war. Weder Carl-Heinz, der Sohn, noch der Vater Carl wurden wirklich alt, 58 und 61. Spannende, aber kurze Leben.
Jedenfalls gibt es vom Juli 22 einen interessanten Brief von Bergmann an den Reichskanzler, in dem es um den erhofften Aufschub der Reparationszahlungen Deutschlands geht. Ich hab ihn im Bundesarchiv gefunden. Die Kriegslastenkommission hatte zuvor bei der Reparationskommission beantragt, dass Deutschland die Barzahlungen für das laufende Jahr stunden kann. Was erwartungsgemäß auf nicht allzu viel Begeisterung stieß.
Sehr verehrter Herr Reichskanzler!
Aus meinen wiederholten Besprechungen mit Delacroix, an denen zeitweise auch Bemelmans teilnahm, habe ich den sehr bestimmten Eindruck gewonnen, dass wir keinerlei Aussicht haben, zurzeit ein längeres Moratorium, geschweige denn eine vollständige Befreiung von den Reparationszahlungen bis Ende 1924 zu erlangen. Von irgendwelcher Einsicht in die Notlage Deutschlands ist nichts zu spüren. Noch immer wird der Zusammenbruch der Mark als ein betrügerischer Bankrott Deutschlands behandelt. Auf meine Frage, was Poincaré eigentlich für Pläne habe, sagte Delacroix, das wisse niemand. Alle Erörterungen der Pariser Presse über angebliche praktische Vorschläge der Französischen Regierung seien Rätselraten. Poincaré hülle sich jedermann gegenüber in tiefstes Geheimnis. Wahrscheinlich habe er überhaupt keinen Plan und spiele inzwischen mit gewohntem Geschick den starken Mann. Ich glaube, dass diese Annahme zutrifft. Poincaré ist bekannt als Formaljurist, von dem noch niemals ein praktischer oder schöpferischer Gedanke ausgegangen ist. Wahrscheinlich hat er weder einen Reparationsplan, noch irgendwelche bestimmten Absichten für Zwangsmaßnahmen Deutschland gegenüber. Um seine Stellung zu wahren, wirft er mit Drohungen um sich herum, so wie er dies auch in seiner Antwort auf die deutsche Clearingnote getan hat. Und doch ist Poincaré eine politische Macht, auch England gegenüber. Es ist erstaunlich, wie an seinem Starrsinn alle guten englischen Vorsätze abprallen und wie Lloyd George immer wieder zurückweicht, sobald das französische Geschrei losgeht. Wenn wir aus London die Ansicht gewonnen hatten, dass es jetzt Zeit sei, einen Zahlungsaufschub möglichst bis Ende 1924 zu beantragen4, so ist es schon jetzt klar, dass wir uns wieder einmal von England aus zu falschen Hoffnungen haben verleiten lassen.
Bergmann erhofft sich von dem Brief einen Hinweis der Regierung, mit welchen Beträgen er in die nächsten Verhandlungen der alliierten Ministerpräsidenten in London gehen soll. Die Konferenz geht ergebnisoffen zu Ende. Detel schreibt 2 Tage später: 15.8. Mittags kommt Fischer von einem Gespräch mit Bradbury (dem englischen Vertreter der Reparationskommission) nach Hause und erklärt, das Ergebnis dieses Gespräches sei, dass ich heute noch nach Berlin fahren müsste. Ich befürchte zwar eine von den vielen Fischerschen Schnelligkeiten, aber da war es bereits fest mit Bradbury verabredet. Ist nichts zu machen. Bradbury will mich nachmittags noch persönlich informieren. Also Sachen packen, essen und halb vier mit Fischer zum Astoria. Bradbury befürchtet nach Scheitern der Londoner Konferenz, dass Frankreich von der Repko überstimmt wird und zu Gewaltakten schreitet. Er ist sehr ernst und pessimistisch. Spricht vom Ende der europäischen Kultur usw. Das einzige Heilmittel, das er noch sieht, ist dass Deutschland einen Weg zur Balancierung seines Haushalts und zur Einschränkung der Schuld findet. Sei es durch neue Steuern, sei es durch Ausgabe von langfristigen Schatzausweisungen. Er will die persönliche Ansicht des Ministers Hermes (Finanzminister) über diese Möglichkeit wissen. Aber äußerste Diskretion! Auch nicht chiffriert telegrafieren, da die Chiffre nicht sicher vor Entzifferung. Deshalb soll ich persönlich fahren, da Fischer nicht abkömmlich, Bradburys Name soll nicht genannt werden, auch nicht Hermes‘ Ministerkollegen gegenüber. Fischer schreibt über die ganze Sache noch einen langen Brief, und mit diesem gondele ich um 8 Uhr mit dem Warschauer Zug ab. Ein Schlafkumpan, ein französischer Fabrikant, schnarcht schamlos.
16.8. Nachmittags 6 Uhr Ankunft Friedrichstraße. Auf dem Reichsfinanzministerium höre ich, dass Hermes an Blindarmentzündung erkrankt zuhause ist. Also per Auto raus zu ihm nach Dahlem. Ich trage ihm nun die ganze Affäre vor und übergebe ihm den Brief, den er aber vorläufig nicht liest. Zum Schluss bittet er mich, zu niemandem von der Sache zu sprechen, ehe wir nicht mit Bergmann beraten haben, der morgen früh kommen soll.
In dem Brief lädt Bradbury den Minister Hermes und den Franzosen Mauclére ein, nach Berlin zu kommen, um vertraulich über den Aufschub der Reparationszahlungen zu sprechen. Detel erinnert sich später, was dann geschah:
Durch einen ganz unglücklichen Zufall erfuhr der Reichskanzler Wirth von meiner Mission. Wütend und in der Befürchtung irgendwelcher finsteren Intrigen ließ er mich kommen, er empfing mich im Garten der Reichskanzlei, wo er von 2 Riesen-Hunden bewacht sich aufhielt, aus Angst vor Attentaten ging er überhaupt schon nicht mehr auf die Straße, und nun verlangte er erst mal den Brief zu sehen. Nachdem er den gesehen hatte, war er leidlich beruhigt und erklärte sich sogar schließlich bereit, seinerseits Bradbury und Mauclère einzuladen. Sie kamen sofort und es wurde wieder tagelang verhandelt. Wirth erklärte mit Emphase, seine Erfüllungspolitik sei bis jetzt ohne Frage richtig gewesen, aber jetzt hätte das ein Ende, wir seien nicht mehr imstande, Lieferungen zu erbringen. Die Engländer wollten durchaus zu einer Kompromisslösung kommen, alles suchte krampfhaft nach der Zauberformel, mit der der wilde Mann Poincaré beruhigt werden konnte. Der bestand eisern auf seiner Forderung der „Gages produktives“ (in etwa: „produktive Pfände“ als Gegenleistung für den Aufschub von Reparationszahlungen. Damit meinte Poincaré die Kohlevorkommen des Ruhrgebietes. Durch diese hatte sich Deutschland in einer wirtschaftlichen Vormachtstellung zu Beginn des Ersten Weltkriegs befunden. Ein halbes Jahr später sollten die Franzosen und Belgier sich das gewaltsam verschaffen, indem sie in das Ruhrgebiet einmarschierten), die erklärten wir für völlig unannehmbar, wir ließen durchblicken, dass wir äußerstenfalls mit uns über kurzfristige Sicherheiten in Devisen für die Zeit des Zahlungsaufschubs reden lassen würden. England machte den Vorschlag, Staatsforsten und Staatsbergwerke zur Sicherheit zu übertragen. Das ging uns wieder viel zu weit, andererseits wussten wir genau, dass Lloyd George die „Gages productives“ ablehnte. So stand alles auf des Messers Schneide und Bradbury und Mauclère reisten unverrichteter Sache wieder nach Paris. Dort ging sofort die Schlacht weiter.
Detel strengt das alles zunehmend an. 29.8. Starker Regen und Gewitter den ganzen Tag. Furchtbar schwül, ich bin völlig kaputt. 2 Jahre ununterbrochener Krisis gehen schließlich doch nicht ganz spurlos am Menschen vorüber. Fischer ist auch stark nervös. Und Meyer hat schon Ischias.
Der 30. und 31. August 1922 waren kritische Tage allererster Ordnung. Die Belgier machten auch ihrerseits noch einen Vermittlungsvorschlag, danach sollten wir für die rückständigen Zahlungen 6 Monatsakzepte (eine Zahlungs-Frist von 6 Monaten) geben, die das Giro der Reichsbank tragen sollten. Das lehnte Berlin glatt ab. Belgien war schließlich so klein, dass es uns bat, wir sollten doch wenigstens die Wechsel anbieten. (Ich kürze das an dieser Stelle rapide ab. Es kommt soweit, dass Deutschland an Belgien diese Wechsel zahlen muss. Und Detel ist der Überbringer:
25.9. Morgens halb 9, als ich in der Badewanne sitze, kommt der Kurier zu mir herein und drückt mir mit einem Gruß von Minister Hermes 96 Millionen Goldmark Reichsschatzwechsel in meine nasse Hand. Ich mache schnell das Begleitschreiben und bringe die Dinger dann selbst zur Repko.
Nach dieser aufregenden Phase macht Detel dann endlich auch mal Urlaub. Er fährt ganz allein nach Italien und Österreich, und wird prompt krank. Die Rückfahrt geht über die Heimat. Zum Glück, denn so sieht er seinen Vater noch einmal.
22.10. Nach Pasewalk. Hübscher, sehr gemütlicher Abend, in Erinnerung an viele fröhliche Königin-Geburtstagsfeiern mit etwa 30 alten Kameraden.
23.10. Abends in Schwerin angekommen, in Folge des vielen Alkohols der letzten Tage geht es mir wieder besser. Nur noch etwas Husten. Vater verhältnismäßig wohl, körperlich noch rüstig, nur die Augen wollen gar nicht mehr, und das Gedächtnis lässt immer mehr nach. Er fragt die einfachsten Sachen oft in ganz kurzer Zeit drei Mal und merkt es dann selbst und leidet schwer darunter. Er sehnt sich nach dem baldigen Ende.
Am 27. fahre ich mit Leni nach Roggow. Vater hatte daran gedacht, am 30. uns nachzukommen. Aber der Arzt, den er fragte, sagte, er solle bei dem unbeständigen Wetter lieber zuhause bleiben.
28.10. Sturm, Regen und Schneegestöber. Die Jagd-Gäste kommen trotzdem, und nachmittags, als es besser wird, schießen wir noch 35 Karnickel und 10 Hasen.
29.10. Als Leni, Willi und ich mittags an der Binnensee spazieren gehen, kommt der Diener Metling vom Hof angelaufen und ruft uns nach Hause. Es sei Nachricht da. Vater habe einen Schlaganfall. Zuhause angekommen, bringt Gerda uns die Nachricht, Vater sei heute Morgen früh 9 Uhr gestorben. In Neubukow Auto nach Schwerin. Vater ist auf dem Rückweg von dem alltäglichen Morgenspaziergang auf die Marstall-Halbinsel vor unserer Haustür tot zusammengebrochen. Als Bollmann ihn einige Sekunden später aufs Bett gelegt hatte, war schon alles vorüber. Er liegt so friedlich da. Gar kein Unterschied zu sehen. Tante Ina ist schon da, und Sohms sind auch sofort dort gewesen und Bollmann hat alles mit Blumen geschmückt. Es war eine traurige Heimkehr. Am 2. November nachmittags haben wir unseren lieben guten Vater an Mutters Seite zur letzten Ruhe gebracht. Er mochte das Leben nicht mehr. Und hat sich solch friedliches Ende so sehr gewünscht. Bei der Trauerfeier im Hause haben wir gesungen „Lobe den Herrn“.
3. – 8.11. Mit Leni viel gekramt und geordnet. Wir müssen uns darauf einrichten, dass wir die obere Etage zum 1.1. vermieten müssen.
Detel hat nicht viel Zeit in Schwerin. Bevor er abreist, bekommt er einen Brief von einem Bekannten, der ihm vorschlägt, Verwaltungsdirektor der Danziger Werft AG zu werden. Später stellt sich zu Detels großem Bedauern heraus, dass das eine sehr ungewisse Sache ist. Offenbar hat Detel keine große Lust mehr auf den Posten in Paris. Ein paar Monate hat er noch vor sich. Später erinnert er sich:
Mitte November 22 kam aus Berlin eine große Reparationsnote, in der die deutsche Regierung nunmehr vollen Zahlungsaufschub für 3 bis 4 Jahre verlangte. Sofort ging ein ungeheurer Entrüstungssturm in der ganzen Entente-Presse los. Poincaré hielt eine gewaltige Rede, in der er unter anderem über die „Richesses skandaleuses de l’Allemagne“ (die skandalösen Reichtümer Deutschlands) sprach. Das Ministerium Wirth trat zurück und nach langen mühsamen Verhandlungen übernahm der Direktor der Hapag, Cuno, die Kabinettsbildung. Auf Seiten der Entente trat das Interesse an den Reparationsfragen in diesen Wochen vorübergehend etwas zurück gegenüber den Fragen des nahen Orients, wo die Türken plötzlich die Griechen vernichtend geschlagen hatten, was einen starken Prestigeverlust für England bedeutete. Jede Schwächung Englands war damals aber zugleich ein Verlust für uns, denn sie bedeutete zugleich eine Stärkung der Position von Poincaré, und der ging jetzt zum Großangriff über. Im Dezember sollte eine Reparationskonferenz der Alliierten in Brüssel stattfinden, vorher sollten sich die Ministerpräsidenten in London treffen. Eine von England erbetene Verschiebung dieser Konferenz lehnte Poincaré glatt ab. Der Reichskanzler Cuno machte schließlich kurz vor der Konferenz den Vorschlag, Deutschland sollte eine große innere und äußere Goldanleihe auflegen, unter der Bedingung einer baldigen endgültigen Regelung der Reparationsfrage. Poincaré lehnte das zunächst a limine (aus formalen Gründen) ab, aber die Presse war auf den Ton gestimmt, dass man vielleicht über den Vorschlag reden könne, wenn die deutsche Industrie von sich aus eine gewaltige Summe zusteuerte. Das würde die Industrie aber nur getan haben, wenn gleichzeitig die Reparationssumme auf einen sehr bescheidenen Betrag und zwar endgültig herabgesetzt worden wäre. Von englischer Seite war schon ein Betrag von 20 Milliarden genannt. Das wirkte ja schon fast erheiternd, wenn man vor einem Jahr den Kampf um die 132 Milliarden Goldmark erlebt hatte. Aber all das war gar nicht erheiternd, es zeigte vielmehr ganz einwandfrei, dass eine Vereinigung der Standpunkte Frankreichs und Deutschlands in der Reparationsfrage auch unter englischen Bemühungen zur Zeit völlig unmöglich war. Also man musste weiter lavieren oder den Bruch riskieren, in der Hoffnung auf aktive britische Hilfe. So mancher glaubte damals, dass man mit dieser rechnen könnte!