Leider habe ich nie auch nur einen Brief von Schwester Leni oder Vater Fortunatus lesen können, es gibt die Briefe wohl nicht mehr – oder jemand anderes aus der Familie bewahrt sie auf, ohne dass ich etwas davon weiß. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass beide niemals auch nur ein Wort zu ihrer schlechten und sich weiter verschlimmernden Situation geschrieben haben. Genau wie es die Propaganda in der Heimat von ihnen verlangte. Damit ihr, die ihr an der Front seid, nicht noch mehr demoralisiert werdet. Dabei gibt es zuhause in Deutschland Grund genug zur Klage.
Es ist bitterkalt, es herrscht Hunger, gerade jetzt im „Rübenwinter“ ist die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Kohle, aber auch mit allen anderen Dingen des täglichen Bedarfs völlig unzureichend. Die Ernte war schlecht, für fast alles gibt es mittlerweile minderwertige Ersatzstoffe, der Schwarzmarkt floriert, die Leute müssen stundenlang anstehen, sie tauschen Wertgegenstände gegen Butter und Eier.
Die Steckrübe, eigentlich ein Futtermittel für Tiere, muss die fehlende Kartoffel ersetzen. Tagein tagaus müssen die Menschen Steckrüben-Suppe, -Auflauf, -Pudding, -Frikadellen, -Koteletts, -Klöße, -Mus und –Marmelade essen. (Nachzulesen bei: Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Dtv 2004)
Keiner kümmert sich mehr um die Kinder und Jugendlichen, die randalierend durch die Straßen ziehen. Teilweise kommt es zu regelrechten Hungerrevolten. Als klar wird, dass kein Frieden in Sicht ist und die Generalität auch gar nicht beabsichtigt, einen Frieden abzuschließen, kommt es in mehreren Städten Deutschlands und auch Österreichs zu spontanen Massenstreiks. Schon im Juni des vergangenen Jahres war es in Berlin zu solch einem Streik gekommen. Anlass war der Prozess und die Verurteilung Karl Liebknechts zu einer langjährigen Haftstrafe wegen seiner Antikriegsrede. Im Frühjahr 1917 kommt es nun zum zweiten Massenstreik, ein Protest gegen die kaum noch erträgliche Lebensmittelversorgung, vor allem Frauen gehen dafür auf die Straße. Wer auch sonst? Ihre Männer und Söhne sind an der Front, und die Frauen müssen die Arbeit übernehmen, die liegen bleibt. Insgesamt sterben schätzungsweise 700.000 Deutsche während des Ersten Weltkriegs an den Folgen der Unterernährung.
Die Schicht der Arbeiter verarmt, aber auch die des Bürgertums. Das Vermögen der Beamten und der Intellektuellen schmilzt, sie steigen sozial ab, viele von ihnen driften ab in das neu entstehende rechte Lager. In der Presse findet dieser Unmut der Bevölkerung kaum Resonanz. Patriotismus und Durchhalteparolen sind hier stärker als die Protestrufe. Auch die Berichte über die Kämpfe an der Front sind nach wie vor beschönigend. (s.: Wolfgang J. Mommsen: Der erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Fischer Verlag 2004)
Du hoffst, dass die Not in der Heimat wenigstens etwas gelindert wird durch die Zufuhr rumänischen Weizens. Aber auch die Österreicher und Bulgaren spekulieren darauf, und die rumänische Bevölkerung braucht ihn auch dringend, da wird nicht viel für Deutschland übrig bleiben.
Du bist mit Deinen Truppen mittlerweile am Sereth (Rumänien) angekommen. Die Versorgungslage auch hier ist schwierig, Holz zum Heizen ist knapp, Futter für die Pferde auch. Dazu regnet es in Strömen, das flache Land ist ein einziger Morast, in dem Mensch und Tier nur mühsam vorankommen. „Es ist enorm, was den Truppen in dieser obdachlosen Gegend zugemutet wird.“ Die Stellung wird mal wieder ausgebaut. Du bist Verbindungsoffizier, also meist hinter der Front unterwegs. „Den gestrigen Ritt werde ich so bald nicht vergessen, mit Schneeregen und dünnem Hagel (…). Die Wege waren grundlos, alles war übergefroren, die Pferde traten aber bei jedem Schritt in den Morast durch. So ging es Schritt für Schritt, 25 Kilometer. Der Regenmantel war bald wie ein Kürass (eine Ritterrüstung) aus Eis.“
Die Wege bis zur nächsten Bahn sind unpassierbar, kein Mensch weiß, wie die Verpflegung von Ross und Mann weiter gewährleistet werden soll. Was es aber offenbar genügend im Vorrat des Kommandanten gibt, sind Verdienst-Kreuze. Du bekommst daraus mal wieder eines: Das „Mecklenburg-Kreuz“. Ob Du’s brauchst? Du bist schon froh, wenn Du so wenig wie möglich nach draußen musst. Lieber hockst Du mit den anderen fünf Offizieren in der kleinen Bauernkate, schreibst Briefe, spielst Skat, futterst dabei Honigkuchen oder rauchst Zigarren, dass man es in dem kleinen Haus wahrscheinlich keine zwei Minuten aushält. Aber „warmer Mief ist besser als kaltes Ozon.“
„Der Russe“ hält sich eisern. Nun geht der Hafer für die Pferde ganz aus. Ihr Zustand ist erbärmlich. Du fürchtest, dass sie verenden. Das könnte bedeuten, dass man euch die Pferde ganz wegnimmt, womit ihr aber kein Kavallerieregiment mehr wärt, sondern vielmehr ein Schützenregiment. „Was doch bei unserer ruhmreichen kavalleristischen Vergangenheit höchst bedauerlich wäre.“
Es kann Dir egal sein, Du bekommst spontan Urlaub, und, was Du vorher genauso wenig gewusst haben wirst, Du kommst gar nicht wieder zurück an die Ost-Front. Dieses Land aber wirst Du trotzdem bald wieder sehen.
Den Februar verbringst Du glücklich zuhause.Was Du verpasst, ist die Februarrevolution in Russland.
Sie macht in einer atemberaubenden Abfolge von Ereignissen Schluss mit der Zarenherrschaft: Ähnlich wie in Deutschland sind auch in Russland immer wieder Streiks entbrannt, Grund ist auch hier die mangelhafte Versorgungslage der Bevölkerung. Der Nachschub über die Ostsee wird durch die Seeblockade erschwert, die Landwirte können nicht arbeiten, da ihnen die Angestellten fehlen, und was produziert wird, bekommen die Soldaten. Die Bevölkerung hat davon zunehmend die Nase voll, in Protesten fordert sie immer lauter nicht nur ein Ende des Krieges, sondern auch das Ende der Zarenherrschaft. Im Gegensatz zu den deutschen Protesten ebben die in Russland aber nicht ab, im Gegenteil, ein regelrechter Flächenbrand entsteht. Politiker der Duma, also des Parlaments, fordern eine Liberalisierung Russlands. Der Zar löst daraufhin die Duma auf. Das Problem auf der Straße bleibt. Schon nachts stehen hier die Menschen an, um in der Bäckerei ein paar Brötchen zu bekommen. Die Menge auf der Straße wird immer größer, die Rufe nach Brot werden lauter, es kommt zu Plünderungen. Arbeiter- und Soldatenfrauen stacheln die Belegschaft in Industriebetrieben zu Streiks an, begleitet von Großdemonstrationen.
Der Zar befiehlt, mit Gewalt gegen die Demonstranten vorzugehen. 60 friedlich demonstrierende Menschen sterben. Der Dumapräsident öffnet die Duma wieder. Im Laufe der nächsten Wochen wird das Parlament durch den Druck der Straße gezwungen, die Regierung, die Militärbefehlshaber und gleich auch noch den Zaren zu verhaften. Das russische Parlament reklamiert alle Befugnisse für sich. Die Polizei von Petrograd (Sankt Petersburg) wird entwaffnet, Gerichtsgebäude, Polizeikasernen und Gefängnisse werden gestürmt, die Gefangenen befreit und die Gebäude in Brand gesteckt. Die Duma wird von bewaffneten Soldaten und Arbeitern besetzt, abends tagt der erste Arbeiter- und Soldatenrat.
Auch in Moskau brodelt es. Der Duma-Präsident, aber auch die Armeemachthaber empfehlen dem Zaren, abzudanken. Der Zar gibt dem Druck nach. Eine neue provisorische Regierung wird gebildet. Viele Russen hoffen, nun sei auch der Krieg zuende, aber nichts da: Zu ihrer großen Enttäuschung entscheidet sich die Regierung, den Krieg weiterzuführen. Der Zar samt seiner Familie wird nach Sibirien verbannt, im Sommer 1918 werden sie alle ermordet.
Doch das ist ein anderes Kapitel, zurück zu Dir, Großvater: Das Roulette der Kriegsschauplätze wird mal wieder neu für Dich gedreht. Und siehe da, die Kugel landet in: Belgien!