Und nun überstürzten sich die Ereignisse: am 2. Januar 1923 trat die erste Ministerkonferenz der Entente in Paris zusammen. Wir hatten einen Reparationsplan der deutschen Regierung in Bereitschaft, aber er kam nicht mehr zur Hebung. Das, was Poincaré als seinen Plan vorlegte, konnte man nur als sadistisch bezeichnen. Der englische Plan, den Bonar Law vertrat, war diskutabel bis auf außerordentlich unangenehme Kontrollbestimmungen. Aber am 4. Januar bereits war klar erkennbar, dass eine Einigung auch der Feinde unter sich nicht möglich war. Am 9. Januar stellte die wieder zum willfährigen Instrument der französischen Machtpolitik gewordene Repko das „manquement volontaire de l’Allemagne“, auf das Poincaré wartete, wegen lächerlicher Differenzen in den Kohlenlieferungen fest, und zwar gegen die Stimme Englands. (Tagebuch:) Die Ruhrbesetzung ist wohl nicht mehr aufzuhalten.
Das, was der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré schon ein halbes Jahr vorher angedroht hatte: dass Frankreich seinen Anspruch auch mit einer militärischen Intervention umsetzen würde, passiert. 11.1. Die Franzosen marschieren ins Ruhrgebiet ein. 60.000 französische und belgische Soldaten besetzen das Ruhrgebiet, mit Pferden, Wagen, Panzern und Kanonen. Sie sollen sicherstellen, dass auch genug Kohle produziert und nach Frankreich abtransportiert wird. Die englische Regierung unterstützt das Vorhaben nicht und beteiligt sich nicht am Ruhrkampf, aber sie verhinderte ihn auch nicht.
Detel wartet zwei Tage auf einen Hinweis aus Berlin, wie er sich nun gegenüber der Reparationskommission zu verhalten hat.
13.1. Weisung aus Berlin: Vertrag wird nur als verletzt, nicht als aufgehoben angesehen. Also Geschäftsverkehr mit der Repko wie bisher, aber gegenüber Belgiern und Franzosen tunlichste Zurückhaltung! Letzteres ist selbstverständlich. Denn das Unheil, das diese Staaten mit dem Einmarsch unter geradezu lächerlichem Vorwand heraufbeschworen haben, ist ungeheuerlich. Dass das jämmerliche kleine Belgien immer so furchtbar wegen der Verletzung seiner Neutralität geschrien hat, sich nicht entblödet, diesen Gewaltakt mitzumachen, nachdem seine sämtlichen Vertreter stets erklärt haben, dass Belgien durchaus zufrieden mit den Kohlenlieferungen sei, ist schamlos.
Dass, was sich Ende des Jahres schon angekündigt hat, nimmt nun durch die Ruhrbesetzung rasant Fahrt auf: Die Mark begann jetzt ihren schwindelhaften Fall in die bodenlose Tiefe. Am 14.1. kostete der Dollar 13000 Mark, am 18.1. 25000 Mark, am 28.1. 32000 Mark und so ging es unaufhaltsam weiter. Am 14. Januar war nationaler Trauertag in Deutschland, wir saßen noch in Paris, hatten aber kaum noch Fühlung mit den Gegnern, nur mit den Engländern.
Bei den Menschen im Revier folgt auf anfängliche Neugier gegenüber den Besatzern blanker Hass. Auch die Regierung ist empört. Reichskanzler Cuno ruft zum passiven Widerstand auf.
Die deutsche Regierung verbietet den Bergwerksbesitzern im Ruhrgebiet, Reparationskohlen zu liefern. Die Besatzungsbehörde erklärt dieses Verbot für unwirksam. Jetzt geht’s auf Hauen und Stechen. Gottlob endlich!!
Arbeiter, Angestellte und Unternehmensleiter begeben sich in einen unbefristeten Arbeitskampf. Und auch bei den Bergbauern lautet die Parole: Keine Arbeit unter französischen Bajonetten.
21.1. Die Arbeiter verschiedener Werke, deren Direktoren verhaftet sind, drohen mit Streik. Die Lage spitzt sich stündlich mehr zu, auch die Eisenbahner im Ruhrgebiet drohen mit Streik. Aus Berlin wird ihnen mit Geld der Rücken gestärkt. England steht stumm abseits und verdient viel Geld, weil alle Welt, auch Frankreich, bei ihnen Kohle bestellen. Bradbury hat vorgestern doch noch Fischer empfangen. Aus seinen Äußerungen ging meines Erachtens klar hervor, dass wir von England nichts zu erwarten haben.
Im Brief an Schwester Leni schreibt Detel: Es war ja schon eine solche Erleichterung, dass überhaupt von Berlin aus das Wort Nein ausgesprochen wurde. Es gilt noch dasselbe, was ich vor anderthalb Jahren gesagt habe: Wir müssen durch eine Ära Poincaré hindurch. Lebt Deutschland noch, wenn diese Ära überwunden ist, dann ist wahrscheinlich alles gerettet. Jetzt treibt freilich alles mit riesenhaften Schritten auf einen riesenhaften Krach los. Der augenblickliche Zustand ist natürlich nur noch eine ganz kurze Zeitlang haltbar.
22.1. Der Kampf geht weiter. Die Berliner Presse ist sehr zuversichtlich. Mittags stehen die Grundzüge des französischen Plans in der Zeitung, den die Repko in dieser Woche beraten soll. Moratorium auf zwei Jahre, 3 Milliarden Gold, innere Anleihe, Verpfändung aller wichtigen Staatseinnahmen, völlige Abschaffung der Finanzhoheit des Reichs. Ich gehe zur englischen Delegation, um möglichst den französischen Plan zu bekommen. Sie haben ihn selbst noch nicht. Bradbury lässt mich zu sich bitten und versucht verzweifelt, etwas aus mir herauszubekommen. Er hat offenbar auch nichts zu tun, sitzt ebenso auf dem trockenen wie wir. Möchte gerne etwas nach London berichten können. Er raucht furchtbar nervös und zieht die Unterlippe unglaublich lang.
23.1. Morgens lässt Bradbury mich durch seinen Sekretär anrufen. Er hätte den französischen Plan jetzt und ich könnte kommen. Fahre mit Fischer hin. Das Biest ist aber 21 Seiten lang und nicht so einfach zu verstehen. Bradbury meint, die Franzosen würden nochmal stark nachgeben. Ob wir uns denn mit dem Plan zufrieden geben würden, wenn die Truppen aus dem Ruhrgebiet zurückgezogen werden würden? Fischer antwortete mit recht: Nein. Das politische Ziel der Franzosen ist das linke Rheinufer. Die Pfände, die sie dort jetzt genommen haben – Zölle und Forsten – müssen sie erst wieder herausgeben. Den französischen Plan, so wie er vorliegt, bezeichnet Bradbury selbst als really ridiculous.
Währenddessen weisen die Besatzer im Ruhrgebiet alle Beamten aus, die sich am Widerstand beteiligen und sich weigern, den Anweisungen der Franzosen Folge zu leisten.
25.1. Viele Regierungsbeamte, Präsidenten und Landräte und eine Menge Forstbeamte sind aus dem Rheinland ausgewiesen, im Ganzen wieder 38 Personen. Mit Frauen und Kindern, binnen 48 Stunden. Frankreich weist im Laufe des Jahres 23 etliche leitende Beamte des Regierungspräsidiums, der Kommunen, der Zoll- und der Forstverwaltung aus, darunter auch zwei stellvertretende Regierungspräsidenten. Die Stimmung vor allem im Ruhrgebiet wird nervöser. Es kommt zu Schlägereien. Bei einer Demonstration in Bochum wird geschossen, ein Junge stirbt.
Und die Mitarbeiter der Kriegslastenkommission in Paris werden von der Polizei überwacht.
27.1. Seit gestern stehen dauernd zwei Schutzleute und zwei Kriminalbeamte und beobachten unser Bürohaus, in der Rue Huysmans. Vorige Nacht sind sie hineingekommen und haben dem Concierge erklärt, hier würden Versammlungen, um gegen Frankreich zu agitieren, abgehalten.
Der Staat übernimmt die Löhne der Streikenden im Ruhrgebiet, und lässt dafür Berge an Papier-Geld drucken. Die ohnehin schon geschwächte Währung wird dadurch weiter entwertet. Dem Widerstand der Bevölkerung tut das keinen Abbruch. Schulklassen singen bei offenem Fenster patriotische Lieder. Menschenmassen auf jedem Bahnhof. Überall Gesang vaterländischer Lieder. Auch auf dem Bahnhof in Köln, wo das seit Jahren verboten ist. Den Franzosen ist offenbar wohl beklommen zumute. Sie haben derartige Schwierigkeiten nicht geahnt. Sie müssen Eisenbahner in Massen an die Ruhr schicken, auch Matrosen für die Rheinschifffahrt. Nur die internationalen Züge passieren. Hermes hat im Reichstag zum Etat eine sehr scharfe Rede gehalten. Passiver Widerstand bis zum äußersten ist die Parole. Abends gehe ich zum Gare de l’Est, um Simons Lebewohl zu sagen. Der ganze Zug voll Soldaten und Matrosen. Auch im Koblenzer Zug Mobilmachungsstimmung. Wenn wir in diesem Kampf siegen könnten, dann hätten wir den Schlusskampf des Weltkrieges gewonnen. Denn der geht jetzt los. Aber die Not in Deutschland ist zu groß, und die Nerven schon zu schlecht.
Der Schlusskampf des Weltkrieges. Drunter geht’s wohl nicht. Detel hat nicht mehr viel zu tun in Paris.
1.2. Unser Betrieb schläft allmählich völlig ein.
Unsere feierliche Protestnote gegen den Ruhreinbruch nahm die französische Regierung nicht an, sondern schickte sie uns mit hochfahrenden Worten zurück. Ohne jeden ersichtlichen Grund wurde auch noch Appenweiher besetzt.
Da war ich glücklich, als endlich aus Berlin die Abberufungsorder für mich kam.
6.2. Telegramm aus Berlin, ich soll sofort „zu besonderer Verwendung im Reichsministerium auf einige Wochen beurlaubt werden.“
Detel packt seine Sachen, alle.
7.2. Der Packen, der in 3 Jahren aufgehäuften Sachen ist fürchterlich. Aber ich muss doch möglichst alles einpacken, denn wer weiß heutzutage, ob ich hier nochmal hinkomme. Ich behalte aber vorläufig die Wohnung.
Am 8. Februar 1923 fuhr ich frühmorgens vom Nordbahnhof ab. In Aachen wurde der Zug nicht von Deutschen, sondern von französischem Personal übernommen, da inzwischen im ganzen französisch besetzten Gebiet der passive Widerstand aller deutschen Männer und Frauen eingesetzt hatte. Im Schneckentempo, aus Angst vor Sabotageakten, ging es bis Düren, da begann die englische Zone, in der wieder normaler deutscher Bahnbetrieb herrschte. Erst spät in der Nacht, als längst alle Anschluss-Züge fort waren, kam ich in Köln an. In ganz Deutschland herrschte im Allgemeinen frohe Zuversicht, ein Aufatmen ging durchs Volk, weil wir endlich einmal laut und vernehmlich Nein gesagt haben.
Ich bin erst 18 Jahre später wieder westwärts über den Rhein gefahren, und als ich Paris wiedersah, da war es der 21. Juni 1940 und über die Place de la Concorde marschierte gerade eine deutsche Kompanie mit dem Hohenfriedberger Marsch.
Hier endet die später von Detel aufgeschriebene Erinnerung an die Zeit in Paris. Was nun folgt, sind nicht minder aufregende und aufreibende Monate –
An Rhein und Ruhr
10.2. Meldung bei Staatssekretär Schröder, es soll wahrscheinlich demnächst ein Reichs- und Staatskommissar fürs Ruhrgebiet eingerichtet werden und ihm Vertreter aller Reichsressorts beigegeben werden. Da soll ich das Reichsfinanzministerium vertreten. Die guten Leute machen sich natürlich nicht klar, dass ich, wenn ich aktiv an solch ausgesprochenen Kampforganisationen teilnehme, für den Pariser Posten unmöglich werde. Mir solls recht sein. Ich habe genug von Paris und bin gleich mit dem Gefühl abgereist, dass ich es nicht wiedersehen werde. Bergmann ist hier und führt einen wütenden Kampf gegen den Marksturz. Heute hat er durch die Reichsbank 500.000 Pfund auf den Markt werfen lassen. Das heißt etwa 80 Milliarden Papiermark. Er hat den Dollar auf diese Weise von 50 schon auf 30.000 M (Mark) herunter. Er ist und bleibt Optimist. Ich glaub nicht an seinen Enderfolg. Meine tausend Dollars behalte ich, solange ich irgend kann.
Was nun folgt, ist eine Reise, nein, nicht ins Ruhrgebiet, sondern ins Rheinland. Und später auch ins Ruhrgebiet. Ich habe das jetzt erst bei der Recherche kapiert, dass mit dem „Ruhrkampf“ tatsächlich nicht nur das Gebiet rund um Bochum, Dortmund, Essen gemeint ist, sondern auch das Rheinland. Dort nämlich haben die Alliierten ebenso das Sagen wie jetzt im Ruhrgebiet. Sie haben es bereits 1920 besetzt. Frankreich hatte große Sorge, dass Deutschland irgendwann wieder in französisches Gebiet einmarschieren würde und verlangte deshalb zur Sicherheit, dass alle linksrheinischen Gebiete nichtdeutsch sein sollten und zudem mehrere Staaten bilden sollten als eine Art Sicherheitszone, ein Puffer zwischen Deutschland und Frankreich. Aber die Amerikaner und die Briten waren dagegen. Zum einen traten sie für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, also waren gegen Fremdbestimmung eines Volkes, zum anderen sollte Deutschland nicht allzu sehr geschwächt werden. Man brauchte es schließlich noch – um die Reparationszahlungen zu bekommen und um ein Bollwerk gegen die wachsende Gefahr durch ein bolschewistisches Russland zu haben. Als Kompromiss einigten sich die „Großen Drei“ auf eine befristete Besetzung der linksrheinischen Gebiete um Köln, Koblenz und Mainz. Sie sollte 15 Jahre lang gelten.
Detels Aufgabe ist es – so zumindest reime ich es mir zusammen – Bericht zu erstatten über die finanzielle Lage vor Ort. Das heißt konkret: wie ist die Versorgung der Bevölkerung, wie geht es der Wirtschaft, wo gibt es Mangel, und vor allem: wie finanzieren wir den Arbeitskampf? Wenn Tausende Arbeiter die Arbeit verweigern, so wie der Staat es ja will, wie können sie vom Staat dann unterstützt werden? So, Mütze auf, es geht los:
16.2. Morgens in Köln, im offenen Auto in zwei Stunden über Reith nach Mönchengladbach. Essen, dann Sitzung im Rathaus mit Industriellen, Kaufleuten, Gewerkschaftlern. Kein Oberbürgermeister. Dann im Auto nach Aachen, wo wir 10 Uhr abends stark durchgefroren ankommen und im prächtigen Quellenhof absteigen.
17.2. Im herrlichen alten Rathaus lange interessante Unterhaltung mit dem Oberbürgermeister. 11 Uhr Sitzung in der Handelskammer. Einfaches Essen im Erholungsverein. Bei Schneegestöber und großer Kälte im offenen Auto nach Köln, zum Regierungspräsidenten Graf Adelmann. Bahnen gehen nur in der englischen Besatzungszone. 7 Uhr wieder ins Auto Richtung Neuss. Unterwegs bei einem Zuckerfabrikdirektor, den Brand aus seiner Landratszeit kennt, gut zu Abend gegessen. Um 10 kommen wir in Neuss an, wo wir im kirchlichen Louisenstift (?), einem großen katholischen Jungenspensionat, von dem Prälaten Köller sehr freundlich aufgenommen werden. Leider ungeheiztes Zimmer und Loch im Fenster bei 10 Grad Kälte. Aber herrlich geschlafen.
18.2. Sitzung im Rathaus mit Bürgermeister, Landrat und Industriellen und Kaufleuten. Anschließend Essen im kleinen Kreise, wobei man viel Interessantes erfährt. 3 Uhr nachmittags im Auto nach Köln. Unterwegs die höchst malerische alte bischöfliche Stadt Zons besehen. In Köln beim Grafen Adelmann mit dem Reichsbankdirektor konferiert. Dann zum Bankier Louis Hagen, dem Präsidenten der Handelskammer, zu Tisch. Knallprotz! Goldenes Kaffeeservice und überladene Wohnung. Um 10 Uhr in den Schlafwagen. Noch lange gearbeitet.
Von den Erkenntnissen seiner Rhein-Reise berichtet Detel noch am 21.2. in einem Bericht an den Staatssekretär Fischer ausführlich. Daraus zitiere ich hier nur ein bisschen:
In Aachen und auch in Gladbach beurteilte man die kommunistische Gefahr recht ernst. Die Kommunisten werden offenbar nicht nur moralisch, sondern auch materiell von der Besatzung gestützt. Demonstrationen, die sie gegen Regierung und Kommunalbehörden unternehmen, haben starken Zulauf von Tausenden von Neugierigen, die nicht für die Sache selbst, sondern nur für den dabei entstehenden Radau Interesse haben. Vorläufig brauchen solche Demonstrationen also nicht tragisch genommen zu werden, selbst wenn die in den französischen Blättern etwa mitgeteilten Zahlen der Teilnehmer an sich richtig sein sollten. Dass aber die Lage ernst wird, wenn in einigen Wochen die Werke wegen Rohstoffmangels und wegen der Unmöglichkeit des Absatzes ganz oder teilweise stillgelegt werden müssen, darf nicht verkannt werden. Wenn außer den feiernden Eisenbahnern auch noch große Mengen beschäftigungsloser Arbeiter die Straßen füllen, wird die Sache anfangen, ungemütlich zu werden, und es wird alles darauf ankommen, dass die nötigen Vorkehrungen getroffen werden, damit die Arbeiter durch Notstandsarbeiten beschäftigt werden können. Nach allem, was man aus dem Ruhrgebiet hört, ist die Lage dort insofern günstiger, als der ganze Abwehrkampf im Ruhrgebiet gerade von der großen Menge der hartnäckigen westfälischen Arbeiterschaft getragen wird. Für eine glückliche Weiterführung des Kampfes wird man versuchen müssen, die Ruhrstimmung in das Rheinland überfließen zu lassen. Ich bin aber recht skeptisch wegen des Erfolges.
Er berichtet dann noch sehr ausführlich über die Lage im besetzten Gebiet: die Lebensmittelversorgung, bzw. die Fleischversorgung, die als gefährdet bezeichnet wird – „erwünscht ist Lieferung von Gefrierfleisch oder Corned Beef“. Hinsichtlich der Fettversorgung werden Bedenken geäußert, weil die Margarinefabriken, insbesondere diejenige in Neuss, mit Rohstoffen nicht ausreichend versorgt werden. Auch mit Kartoffeln und Milch sieht es schlecht aus.
22. – 24.2. (Berlin) Viele langweilige Sitzungen, in denen viele mehr oder weniger kluge Männer über die Ruhrangelegenheiten reden und die Sache schwerer machen als nötig.
Die Preise in Berlin sind katastrophal. Essen unter 3000 M ist unmöglich. Straßenbahnfahrt 200 M. Das Elend in der Bevölkerung ist namenlos.
25.2. Ich werde vorläufig der Etatabteilung des Reichsfinanzministeriums zugeteilt, als Generalreferent neben Ministerialrat Karlowa für die Ruhrangelegenheiten. All das ist mir sehr neu und macht mir gar keine Freude. Generalreferent. Klingt doch gut. Aber was das genau ist, finde ich nicht heraus. Ein Referent ist ein Beamter höheren Dienstes, der auch schon mal den Referatsleiter vertritt – ein Referat ist ein bestimmtes Sachgebiet. Generalreferenten gibt es seit 1946 nicht mehr im Internet. Ich kann nur mutmaßen, dass das Aufgabenfeld eines Generalreferenten so breit gefächert ist wie die Themen, die ihm täglich so begegnen. Das heißt, er ist nicht für ein bestimmtes Gebiet zuständig, sondern für alle innerhalb des Ressorts.
26.2. – 3.3. Der Ruhrkampf wird mit Erbitterung beiderseits fortgesetzt. Die Franzosen rücken allmählich weiter vor, sie haben jetzt auch die Karlsruher Rheinhäfen, ferner Mannheim und einen Teil von Darmstadt besetzt
(Foto von Zeitungsartikel über Cunos Rede)
Im März werden in Buer zwei französische Offiziere aus dem Hinterhalt erschossen. Die Franzosen rächen sich mit militärischen Übergriffen auf Bewohner, es gibt Tote und Verletzte. Genauso bei Thyssen in Essen, wo Soldaten in die demonstrierende Belegschaft schießen.
10.3. Bergmann ist immer noch Optimist. Anfang nächster Woche fährt er nach der Schweiz, um mit Dubois, dem Präsidenten und des Baseler Bankvereins zu sprechen und ihm einen neuen Plan in die Hand zu stecken, der auf dem Umwege über Delacroix an Poincare gelangen soll. Als ob der überhaupt noch Reparationen wollte! Es ist jetzt die paradoxe Lage, dass Deutschland eigentlich das einzige Land ist, das noch Reparationen will. Frankreich will politische Sicherheiten. England will möglichste Schwächung Frankreichs. Also auch keine Reparationen. Italien will nichts weiter als etwas Kohle. Deutschland will Friede und Verständigung aufgrund eines Moratoriums und späteren Reparationszahlungen. Je raparationsunfähiger wir werden, desto besser für England. Je mehr Frankreich blutet, desto besser für England. Siegt Frankreich in dem Ruhrkampf, so ist das für England sehr schlimm. Kommen wir zu einer vollen wirtschaftlichen Verständigung mit Frankreich, so ist das für England noch schlimmer. Denn dann würde die politische Verständigung bald folgen. Alle deutschen und französischen Interessen weisen auf die Notwendigkeit solcher Verständigung unter Ausschaltung Englands hin. Alle politischen Möglichkeiten und alle geschichtlichen Erfahrungen sprechen dagegen. Aus eigener Kraft können wir in dem Ruhrkampf nicht siegen. Englands Interesse wäre es, uns zu helfen. Das kann es weder offen noch heimlich, weil die öffentliche Meinung für den früheren Bundesgenossen ist. Käme es zu offenem Kampf zwischen uns und Frankreich so müssten die Engländer wahrscheinlich sogar gegen uns Stellung nehmen. Also wollen sie ihn und also dürfen wir ihn nicht. England wird sich also vorläufig die Vormachtstellung Frankreichs gefallen lassen müssen. In der Hoffnung darauf, dass in der Zukunft einmal Deutschland und Russland den Krieg gegen Frankreich führen werden.
Das finde ich krass, dass Detel einen offenen Kampf, ja, Krieg für möglich und strategisch richtig hält. Wie können die Wörter „Hoffnung“ und „Krieg“ nur in einem Satz stehen!
Aus den aufbewahrten Unterlagen entnehme ich, dass Detel an Sitzungen teilnimmt, in denen es um die Finanzlage der besetzten Gebiete geht. Die Anliegen der vor Ort Ansässigen sind teils so derart detailliert und so deutsch, dass es schmerzt, aber andererseits auch schon wieder amüsant (ich gebe zu, das ist etwas arrogant von mir – es geht wahrscheinlich um mittellose Menschen). Weil in den besetzten Gebieten eine Verkehrssperre eingerichtet worden ist, kommen auf die Arbeiter ungeahnte Kosten zu, die nun von der Reichskasse übernommen werden sollen. „Es handelt sich z.B. um Kosten für Fahrräder und auch für erhöhte Abnutzung von Schuhzeug, die dadurch entstehen, dass die Arbeiter die gewohnten Beförderungsmittel zur Erreichung ihres Arbeitsortes z.Zt. nicht benutzen können.“
Detels Aufgabe ist es unter anderen, die Menschen, die nach dem Willen des Staats streiken, dazu zu bringen, Anträge auf Kredithilfe und Arbeitslosenfürsorge zu stellen. In Hamm und in Köln machen das so viele Menschen, dass wahrscheinlich mehr Personal zur Bearbeitung der Anträge benötigt wird. „Im schriftlichen Dienstverkehr mit Köln ist größte Vorsicht geboten. Sämtliche Telegramme werden von der Besatzungsbehörde geprüft.“
In Düsseldorf wird die Verwaltung der Masse an Anträgen kaum Herr. Detels Urteil: „Die Kommunalbehörden sind geneigt, alle Forderungen zu bewilligen, die mit Nachdruck und unter Massenandrang gestellt werden. So kommt es, dass vielfach die von den Kommunen für Notstandsarbeiten gezahlten Beträge höher sind als die normalen Löhne und dass Arbeiter aus den Betrieben abwandern, um Erwerbslosenfürsorge oder Notstandslöhne zu beziehen. Natürlich ist es schwer, wenn nicht unmöglich, einmal bewilligte Sätze abzubauen. Wo, wie zum Beispiel auch in Düsseldorf, selbst die Kommunisten eine Rolle spielen, müssen die Kommunalbehörden täglich Unruhen und Blutvergießen befürchten, wenn sie nicht immer weiter nachgeben. Bei den Dezernenten der Regierung in Düsseldorf lag bei meiner Anwesenheit gerade eine weitere Anforderung des Oberbürgermeisters von Düsseldorf auf 6 Milliarden vor. Solche Beträge dürfen nach den strikten Weisungen des Arbeitsministeriums nicht ausgezahlt werden, ohne dass zuvor Rechnung gelegt ist, über die bisher verausgabten Mittel. Bei Ablehnung des Zahlungsantrags rechnete der Dezernent der Regierung bestimmt mit Unruhe in der Stadt.“
Klar, dass, wenn der Staat fürs Nichtstun zahlt, es auch zu Missbrauch kommt. Detlof bekommt es tagtäglich vorgeführt: Der Ruhrkampf verschlingt Unsummen. Dutzende Fabriken und Druckereien sind mit nichts anderem beschäftigt als dem Herstellen von Banknoten. Eine Folge ist die Hyperinflation, der völlige Verfall des Geldwerts. Die Menschen verkaufen in der Not ihr Haus und bekommen für das Geld einen Laib Brot. Den Tageslohn auf der Arbeit nehmen sie erst in einer Tasche, später in einer Schubkarre mit und rennen damit zum nächsten Lebensmittelgeschäft, um schneller zu sein als der Geldverfall.
24.5. Ich sehe mit Sicherheit eine große Katastrophe kommen und möchte gerne, dass sie bald käme. Denn dieses Warten ist grauenhaft. Wir können meiner Überzeugung nach den Kampf in jetziger Form nur noch ganz kurze Zeit durchhalten. Dann müssen wir Ruhr und Rhein vielleicht vorläufig zurückgeben. Dann kommt es darauf an, ob wir Nerven genug haben, die Industrie dieser Gegenden kaputt gehen zu lassen. Das würde sie, wenn wir weiter unsere Grenzen nach Westen verschließen.
Detel hat Hunderte von sogenannten „Lageberichten“ aufgehoben. Vergilbte Blätter mit getippten Berichten über die tagesaktuelle Situation im Ruhrgebiet, so etwas wie Presseberichte, aber nicht für die Öffentlichkeit, sondern für die Regierung, von verschiedenen lokalen Behörden wie Polizei und Kommunalverwaltungen. Hochspannend zu lesen. Ich will einen Auszug daraus bringen:
Lagebericht Reichskanzlei Zentralstelle Rheinruhr (so heißt es nur an diesem Tag. An den darauf folgenden heißt es nun:)
Der Kommissar des Reichskanzlers für die Ruhrabwehr
Berlin 17.5.
Telefonat Wetzlar: in Schören ist ein Anschlag auf die militarisierte Bahn verübt worden. Der Gemeindevorsteher, der Pfarrer und der Pastor wurden als Geiseln festgenommen.
Die Möbel der ausgewiesenen Beamten werden fortan nicht mehr herausgelassen.
In Kreuznach wurde eine Postzensurstelle eingerichtet.
In Etzweiler an der Strecke Etzweiler-Bergheim ist eine Schienensprengung erfolgt, die beschädigte Strecke ist unfahrbar, eine Lokomotive wurde beschädigt und deren Führer leicht verletzt.
In Bedburg wurde ein 48-jähriger Mann von einem Angehörigen der Besatzungstruppen überfallen und misshandelt.
In Bettendorf bei Bonn geriet ein, einen Tanzboden besuchender französischer Soldat mit Zivilisten in Streit und wurde erschossen, die französische Kriminalpolizei nahm den Täter fest.
Nach zuverlässigen Mitteilungen sollen in Frankreich Aufforderungen in den Straßen der Städte angeschlagen sein zur freiwilligen Meldung von Eisenbahnern für die Dienstleistung im besetzten Gebiet gegen gute Bezahlung und Wohnungen. Soweit festgestellt, sind bisher vorwiegend Elsässer eingetroffen, die sich nach ihrer eigenen Angabe auf 3 Jahre zur Dienstleistung verpflichtet haben.
Kohlenabfuhr:
Auf dem Eisenbahnwege: am 14. Mai 1923 sind beobachtet:
über Aachen West-Montzen Kohlewagen 468, Kokswagen 480
über Eifelbahn Kohlewagen 33 Kokswagen 390
Summe Bahnweg bis 14. Mai einschließlich 164300 Tonnen Kohlewagen, 266200 Tonnen Kokswagen.
Macht zusammen 430500 Tonnen.
Berlin 18.5. 1923
Vielfach versuchen die französischen Befehlshaber die Eisenbahner und ihre Frauen durch eindringliche persönliche Vorstellungen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. So wurden am 15. Mai 10 Eisenbahnbeamte der verschiedenen Besoldungsgruppen nebst ihren Ehefrauen in Ludwigshafen zum Präsidenten der militärischen Unterkommission vorgeladen. Er eröffnete ihnen etwa folgendes: er fordere hiermit nochmals dringend auf, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er sehe das Elend, das über die Familien hereingebrochen sei, immer größer werden. Es sei ihm der Vorwurf gemacht worden, dass in seinem Bezirk zu wenig Ausweisungen vorgenommen seien. Während seiner kommenden Beurlaubung sehe er ein neues Gewitter für die Eisenbahner aufsteigen. Er möchte Ihnen weiteres Elend ersparen und fordere sie eindringlich auf, sich in den Dienst der Regie (Regie = französische Besatzung) zu stellen. Er habe die Frauen mit vorgeladen, da sie politisch nicht so geschult seien und objektiver urteilen könnten. Auf die Entgegnung eines Beamten, dass sie der Regierung ihren Eid nicht brechen könnten und den schon Ausgewiesenen und Verdrängten nicht in den Rücken fallen würden, wusste der französische Befehlshaber nichts zu antworten. Ebenso schwieg er auf die Frage, wie er handeln würde, wenn er sich in der Lage eines Deutschen befände.
In Kaiserslautern wurden fast sämtliche von den Verdrängten verlassenen Wohnungen durch die Franzosen belegt. Die Ausstattung mit Möbeln erfolgte zum Teil durch Beschlagnahme von Möbeln bei Möbelgeschäften.
Die am 16.5. in Verhandlungen beim Reichskommissar Mehlisch für den 17.5. vereinbarte Arbeitswiederaufnahme ist infolge des überragenden Einflusses des kommunistisch gesinnten Teiles der Belegschaft nicht befolgt worden. Arbeitswillige auf dem Schacht 1 sind durch mit Knüppeln ausgerüstete kommunistische Hundertschaften unter Anwendung von Gewalt von ihrer Arbeitsstelle vertrieben worden. Teile der kommunistischen Hundertschaften sind danach zur Zeche Scharnhorst gezogen und haben dort die Einstellung der Arbeit erzwungen.
Am 17. Mai erging ein französischer Befehl, der sich auf das ganze Ruhraktionsgebiet erstreckte: „Die Eisenbahnbeamten und Arbeiter des Brückenkopfes Düsseldorf müssen ihren Dienst binnen 48 Stunden nach Veröffentlichung des gegenwärtigen Befehls wieder aufnehmen. Es wird folgendes erinnert: Die Regie sichert den Eisenbahnern bei ihrem Dienstantritt die Auszahlung ihrer früheren Gehälter und Zulagen zu. Alle Rechte, alle Versicherungen, kassenärztliche Behandlung wird ihnen gewährleistet, die jetzigen Wohnungsverhältnisse werden beibehalten. Alle diejenigen, welche diesen Befehlen nicht nachkommen, werden sofort entlassen. Sie müssen mit ihrer Ausweisung der ganzen Familie rechnen.“
Der Oberchef Degoutte
Durch solche Befehle und durch persönliche Werbung suchen die Franzosen und Belgier die in ihrem Abwehrkampf standhaft ausharrenden Eisenbahner umzustimmen und für ihre Dienste zu gewinnen. In neuerer Zeit schicken sie deutsch sprechende Frauen von französischen Offizieren und Beamten zu den Frauen der Eisenbahner, um diese mit dem Hinweis auf das Elend der Ausweisung und auf den Verlust der Wohnung und des Hausgeräts in ihrer Vaterlandstreue wankend zu machen.
An den Pranger: Der 22 jährige Bahnhofsarbeiter Wilhelm Koendgen von der Station Bonn G, wohnhaft in Meßdorf bei Bonn, Meßdorferstr. 33, ist in den Dienst der französischen Regie übergetreten und damit aus dem Dienst der Reichsbahn entlassen.
Mir ist an dieser wie an etlichen anderen Stellen aufgefallen, dass diese Berichte mehr als eindeutig gefärbt sind – von der vorherrschenden Anti-Stimmung. Gegen die Besatzer, gegen Kommunisten, Überläufer, etc. Sie sind also nicht wie Presseberichte, denn diese müssen strikt neutral sein, es sei denn, sie sind gekennzeichnet als Kommentar.
Berlin 23.5.
Dortmund: Am Vormittag des 22.5. ist es auf dem Union Werk, in das ein Trupp von mehreren 100 Kommunisten eingedrungen war, um die noch im Betrieb befindlichen Abteilungen stillzulegen, zu einem Zusammenstoß gekommen, bei dem aufseiten der Polizei und der Aufrührer je ein Mann verletzt wurde. Die Kommunisten wurden mit der Waffe auseinandergetrieben. Am gestrigen Nachmittag zog im Anschluss an Versammlungen der Streikenden eine vieltausendköpfige Menge zum Steinplatz und versuchte, die sehr schwach besetzte Polizeiwache Nummer 5 zu stürzen. Die Beamten wurden hart bedrängt, konnten aber, nachdem Verstärkungen eingetroffen waren, in hartem Kampf unter Anwendung der Schusswaffen die Menge zurückdrängen. Gegen 11:00 Uhr nachts war die Ruhe im Allgemeinen wiederhergestellt. Bei diesem Zusammenstoß hatte die Polizei 5, zum Teil Schussverletzte, die Aufrührer, soweit feststellbar, 3 Tote und 23 ins Krankenhaus eingelieferte Verletzte.
Die Polizei ist bisher in Dortmund noch Herr der Lage. Ihre Lage wird aber durch den einwandfrei festgestellten Zwang auswärtiger kommunistischer Hundertschaften von Stunde zu Stunde bedrohlicher.
Berlin 24.5. Der Kommissar des Reichskanzlers für die Ruhrabwehr
Reichsverkehrsministerium: während der Pfingstfeiertage ist auf der linken und rechten Rheinlinie eine starke Benutzung der von Franzosen geführten Züge durch ein gewissenloses deutsches Publikum festgestellt worden. In der Bahnhofshalle Bonn war ein ganz erheblicher Andrang von Reisenden, die zum Teil mit der Rheinuferbahn aus Köln angekommen waren, zu den Franzosenzügen bemerkbar. Namentlich waren es Wandervögel in jungen Jahren, die ohne Scheu zu ihren Wanderfahrten diese Züge benutzten.
Nach Meldungen aus Trier und Umgegend werden die übergelaufenen Bediensteten des Zugbegleitdienstes zu den niedrigsten Dienstverrichtungen herangezogen. So wurde auf dem Bahnhof Karthaus ein übergelaufener älterer Zugführer beobachtet, welcher gezwungen war, die Bahnsteige mit dem Besen zu fegen. Ein Marokkaner mit aufgepflanztem Seitengewehr folgte ihm auf dem Fuße und beaufsichtigte die Arbeiten.
Telefonat Essen: die blutigen Ereignisse, die sich am Mittwoch in Gelsenkirchen abgespielt haben, sind die Folgen der Vernichtung der deutschen Schutzpolizei durch die Franzosen. Wie erinnerlich hatte gerade die Gelsenkirchener Schutzpolizei, die mit der Bevölkerung im besten Einvernehmen stand, den besonderen Zorn der französischen Besatzungstruppen hervorgerufen, die seinerzeit mit großem Aufgebot eine militärische Expedition nach Gelsenkirchen unternahm und die Schutzpolizei entwaffnete, misshandelte und verhaftete. Der von Gelsenkirchener Bürgern gebildete Selbstschutz konnte auch im Verein mit der städtischen Feuerwehr im Ernstfalle einen wirksamen Ersatz für die Schutzpolizei nicht geben. Die Missstimmung über die Preissteigerungen der letzten Tage, die sich im Ruhrgebiet verstärkt bemerkbar machten, wurde von kommunistischen Hetzern benutzt, um die Erregung in Gelsenkirchen zu steigern. Die Bildung wilder Kontrollkommissionen veranlassten den Selbstschutz zum Eingreifen. Nunmehr traten die proletarischen Hundertschaften aus Gelsenkirchen und aus der Umgebung in Aktion. Diesen Hundertschaften der Kommunisten schloss sich verbrecherisches Gesindel in großer Zahl an. Nachdem es den Aufrührern in den Abendstunden gelungen war, das Gelsenkirchener Polizeipräsidium zu besetzen, wurde versucht, das Gebäude in Brand zu stecken. Dieser Versuch hätte, wenn er voll gelungen wäre, für die Stadt die furchtbarsten Folgen haben können, da Gelsenkirchen zurzeit auch ohne jeden Feuerschutz ist. Die Aufrührer begnügten sich damit, sämtliches Aktenmaterial der Polizei, Schreibmaschinen und Lebensmittel aus den Fenstern zu werfen und auf der Bankstraße zu verbrennen. Dieses sinnlose Zerstörungswerk fand indessen bei der Arbeiterschaft heftigen Widerspruch, die ihre Schlüsse zu der gegenwärtigen Lage heute fassen dürften. In den Morgenstunden des heutigen Tages wurde das vollständig ausgeraubte Polizeipräsidium von den Aufrührern noch besetzt gehalten. Die Stadtverwaltung Gelsenkirchen hat ihren Dienst wieder aufgenommen. Das Rathaus ist noch unbesetzt. In der Stadt herrscht nach wie vor große Erregung, da bei dem Fehlen jeglicher staatlicher Machtmittel die Entwicklung der Dinge unübersehbar ist. Die in Gelsenkirchen seit wenigen Tagen einquartierten französischen Truppen haben, wie aus einwandfreien Zeugnissen Gelsenkirchener Bürger und Arbeiter hervorgeht, die Herbeiführung der heftigen anarchischen Zustände begünstigt. Die proletarischen Hundertschaften wurden bei ihrem Anrücken von den französischen Soldaten mit lebhaften Zurufen begrüßt. Französische Offiziere haben die aufrührerische Menge zur Plünderung des Polizeipräsidiums geradezu ermuntert und im Besonderen auf die Zerstörung der Akten hingewiesen. (Später wird berichtet:) Bei den gestrigen Unruhen hatte die Polizei einen Toten und mehrere Schwerverletzte. Auf Seiten der Aufrührer sind 11 Tote und über 70 ins Krankenhaus eingeliefert Verletzte zu verzeichnen.
Man könnte ein ganzes Buch allein zu diesen Lageberichten schreiben. Das will ich aber nicht, ich blättere vor zu den letzten, von Detel aufgehobenen, Lageberichten.
In der Kopfzeile heißt es nun: „Der Reichsminister für die besetzten Gebiete“.
Berlin 14.9. Der von der französischen Besatzung geräumte Bahnhof Bottrop Süd wird fast täglich von plündernden belgischen und französischen Soldaten heimgesucht. Sämtliche Einrichtungen des Empfangsgebäudes und der Stellwerke werden allmählich zerstört und geraubt. Die Telegrafen-, Fernsprechamt- und Beleuchtungsanlagen werden zum Teil mutwillig mit dem Hammer und der Hacke zerschlagen, zum Teil weggeschleppt. Alle wertvollen Metalle, wie Kupfer, Messing und Blei wurden mitgenommen und von den Soldaten Althändlern zum Kauf angeboten.
18. September: Beim französischen Personal zeigt sich aufs neue Verstimmung; Drohungen mit Arbeitsniederlegung sind nicht selten. Die Bezahlung wird als unzulänglich empfunden, namentlich in letzter Zeit. Ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit bildet die starke Inanspruchnahme des Personals, veranlasst durch den herrschenden Personalmangel, den die Regie offenbar selbst nicht mehr beheben kann.
Detels Tagebuch vibriert in der Zeit vor nervösen Einträgen über den Absturz der Mark:
26.7. Der Dollar kostet 600.000 Mark. Die Lebensmittelgeschäfte sind zur Hälfte geschlossen, die Leute stehen davor an und sind noch ruhig. Es kann nur noch ganz wenige Tage so weitergehen und es muss eine ungeheure Katastrophe geben. Wie dieses dicht bevölkerte Land darüber hinwegkommen soll, ist ein Rätsel.
1.8. Nun steht der Dollar auf einer Million.
19.8. Der Dollar kostet 4 Millionen. Die nächste Woche des Ruhrkampfes wird etwa 65 Millionen kosten.
24.8. Viele Betriebe liegen still oder führen Kurzarbeit ein, weil sie die Löhne nicht bezahlen können. Die Erwerbslosigkeit nimmt rapide zu. Ich glaube, dass die Mark auch mithilfe eines erheblichen Devisenfonds, der jetzt geschaffen werden soll, nicht stabilisiert werden kann, solange der Ruhrkampf in seiner jetzigen Form fortgeht. Denn der bedingt die Schaffung von immer größeren riesigen Papiergeldmengen und damit immer weitere Entwertung. Und die Produktion, die dem gegenüber steht, ist gleich 0.
Ein einfachstes Mittagessen ist jetzt nicht unter 1 Million zu haben, der Dollar ist zwar von 6 Million auf 4 einhalb gesunken, aber die Preise steigen weiter
2.9. Der Ruhrkampf kostet uns jetzt täglich 40 Billionen.
Den Herren im Reichsfinanzministerium war also durchaus bewusst, dass der Ruhrkampf und das pausenlose Drucken von Banknoten die Ursachen für die galoppierende Inflation waren. Und dem Kanzler auch. Ich finde in den Unterlagen ein Schreiben von – ich vermute – Carl Bergmann an den Reichskanzler, in dem er ihn genau davor warnt.
Den Menschen in Deutschland geht es schlecht. Das gibt es sogar amtlich – ich entnehme es diesem Bericht:
Eine Aufzeichnung über den dringendsten Einfuhrbedarf Deutschlands zur Sicherstellung der Volksernährung im laufenden Wirtschaftsjahr (1923)
Brotversorgung: Ich kürze es drastisch ab, um nicht mit zu vielen Zahlen zu langweilen. Fakt ist: es gibt derzeit 63 Millionen Menschen in Deutschland. Um die mit Brot zu versorgen, bräuchte es eine Einfuhr von 7 Millionen Tonnen Getreide. Und das „ist das verarmte Deutschland außerstande zu bezahlen. Es muss daher seinen Bedarf an Brotgetreide bis zu der Grenze einschränken, die für die Aufrechterhaltung seiner körperlichen Leistungsfähigkeit notwendig bleibt. Die im letzten Jahre zur Verfügung stehende Menge unterschreitet bereits erheblich die für die Bevölkerung erträgliche Grenze; sie bedeutet bereits eine Unterernährung. Mit einem Kopfbedarf von rund 140 Kilogramm hat das deutsche Volk im vorigen Jahren nur bestehen können, weil eine besonders gute Kartoffelernte zur Verfügung stand, die hinter der Ernte von 1913 um nur 10% zurückblieb. Trotz dieses Ausgleichs ist der allgemeine Ernährungsstand und der Gesundheitszustand im vergangenen Jahre außerordentlich zurückgegangen, so dass nach dem Gutachten der ärztlichen Wissenschaft die deutsche Bevölkerung zum Teil der Unterernährung oder dem langsamen Hungertod preisgegeben ist.
Zum Fettverbrauch: Die Zunahme des Margarinekonsums ist erklärlich durch die Verarmung breiter Volksschichten. Dass der Gesamtfettkonsum – unter Rückgriff auf das minderteure Margarinefett – nicht so erheblich, wie dies bei anderen Lebensmitteln der Fall ist, gegenüber dem Friedensverbrauch zurückgegangen ist, erklärt sich ernährungsphysiologisch aus der Tatsache, dass der Fleischkonsum von 47,3 Kilogramm jährlich je Kopf in der Vorkriegszeit auf 28,45 kg im Jahre 1922 gesunken ist. Um der drohenden Unterernährung durch mangelhaften Fleischkonsum und durch Wegfall der hochwertigen in der Milch und in der Butter enthaltenen Fette einigermaßen entgegenzuwirken, haben sich die verarmten Volkskreise auf einen vermehrten Konsum von Margarine, die immer verhältnismäßig billig war, eingestellt.
Besonders die Menschen im Ruhrgebiet hungern. Mit Sorge schauen sie auf den nächsten Winter, während Waggon für Waggon an Kohle für die Fahrt nach Frankreich bereitgestellt wird. Das zermürbt den passiven Widerstand. Im September mutmaßt Detel:
12.9. Es geht jetzt wohl schnell dem Ende zu. Der Dollar steht auf 100 Millionen. Krampfhafte Versuche werden überall gemacht, um noch zu retten. Verhandlungen mit Frankreich sind im Gange, der passive Widerstand an Rhein und Ruhr wird in den nächsten Tagen wegen Mangels an Geld aufgegeben.
In den Unterlagen findet sich das Protokoll einer Sitzung u.a. des Reichsarbeitsministeriums zur „Frage des Abbaus der Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiete am 13.9.“ – quasi als letzter Versuch, das Schiff am Sinken zu hindern. Darin erwägt man die Kürzung der Löhne der Bergbauarbeiter und betont gleichzeitig die Unmöglichkeit dieses Unterfangens: sie würde ad hoc den passiven Widerstand der Arbeiter beenden. Andere Sparmaßnahmen werden als zu wenig wirksam bezeichnet – eine komplett verfahrene Situation. Bleibt zu erwähnen, dass der Bericht auf super-dünnem Papier gedruckt ist, auch eine Sparmaßnahme, nehme ich an.
Ende September ist es soweit:
26.9. Der Abbruch des Ruhrkampfes ist heute von der Reichsregierung beschlossen worden.
Die Reichsregierung unter Reichspräsident Ebert verkündet den Abbruch in der Zeitung – hier ein Artikel von Donnerstag, 27. September 1923: (Foto)
„Der Aufruf der Reichsregierung.
An das deutsche Volk!
Um das Leben von Volk und Staat zu erhalten, stehen wir heute vor der bitteren Notwendigkeit, den Kampf abzubrechen. Wir wissen, dass wir damit von den Bewohnern der besetzten Gebiete noch größere seelische Opfer als bisher verlangen. Heroisch war ihr Kampf, beispiellos ihre Selbstbeherrschung. (…) Reichspräsident und Reichsregierung versichern hierdurch feierlich vor dem deutschen Volk und vor der Welt, dass sie sich zu keiner Abmachung verstehen werden, die auch nur das kleinste Stück deutscher Erde vom deutschen Reiche loslöst. In der Hand der Einbruchsmächte und ihrer Verbündeten liegt es, ob sie durch Anerkennung dieser Auffassung Deutschland den Frieden wiedergeben oder mit der Verweigerung dieses Friedens alle die Folgen herbeiführen wollen, die daraus für die Beziehungen der Völker entstehen müssen. Der Reichspräsident Ebert. Die Reichsregierung.“
Um das Problem mit der Hyperinflation zu bremsen und endlich die Währung zu stabilisieren, führt die Regierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann im November die sogenannte Rentenmark ein.
16.10. Die Rentenmark ist beschlossene Sache. Die alte Papiermark bleibt gesetzliches Zahlungsmittel. Daneben tritt als zugelassenes Zahlungsmittel die Rentenmark und die Goldanleihe.
Die Menschen sollen mit einer neuen Währung wieder Vertrauen in ein Zahlungsmittel bekommen. Für 1 Billion Reichsmark wird 1 Rentenmark ausgegeben.
Die Notenpressen stehen still. Das Ende der Hyperinflation ist eingeleitet. Und Detel wundert sich über sein geringes Gehalt.
10.12. Die Beamtengehälter sind grausig gering. Ich bekomme wohl ungefähr 300 M im Monat. Das heißt, dass sie mir die Hälfte der Friedenskaufkraft geben, etwa 150 M. Die Mieten steigen dabei dauernd.
17.12. Die Kassen des Reichs sind völlig leer, heute sollten wir das halbe Dezembergehalt bekommen, es gab aber auch davon nur die Hälfte mangels Barmittel. Ich hatte heute Morgen noch 30 Pfennig. Für einen alten Oberregierungsrat ist das ein unerhörter Zustand! An den Abstrich von 12 überflüssigen Nullen gewöhnt man sich aber merkwürdig schnell.
Mit der Währungsreform geht 1923 eine der heftigsten Krisen dieses an Krisen reichen armen Jahres seinem Ende entgegen. Andere flammen gerade erst auf: Kommunisten und Rechtsradikale wittern angesichts des Chaos ihre Chance, die verhasste Weimarer Republik zu kippen: In Sachsen und Thüringen proben die Kommunisten die Revolution, in Bayern planen Rechte einen Putsch. Und dann gibt es zahlreiche Separatistenbewegungen im Reich, etwa die im Rheinland, die eine Abspaltung von Preußen zum Ziel hat, außerdem in Duisburg, Aachen, Koblenz usw. All diese Dinge sind hochspannend, führen aber weg von Detel, der nun wieder nach Berlin zurückgeht. Und gar nicht glücklich ist – seit langem lesen wir nun wieder von Liesel Müller, ohne dass der Name fällt:
16.7. Es ist doch zu sonderbar, wie kompliziert das Leben ist. Glücklich die Menschen, die das nicht empfinden. Vor wenigen Tagen habe ich selbst einen Roman zu Ende gebracht, der nun fast 3 Jahre spielte. Ich bin nur die ersten Tage richtig unglücklich gewesen. Kann aber nicht feststellen, ob das an meiner Gefühls- und Herzlosigkeit liegt oder ob es ein Beweis dafür ist, dass ich Recht hatte, Schluss zu machen. Oder beides. Ich kenne und verstehe mich selbst in diesen Dingen gar nicht. Ich nahm bestimmt an, dass ich den Schritt grenzenlos bereuen würde, wusste andererseits ganz genau, dass ich mir dauernd bittere Vorwürfe machen würde, wenn ich ihn nicht tat. Das musste ausschlaggebend sein, denn ich kann mich nicht genügend verstellen, um dauernd Theater zu spielen. Und das wäre es geworden. Das wäre eine Unaufrichtigkeit schlimmster Art gewesen und eine Gemeinheit dazu. Also ich hatte die Wahl zwischen Gemeinheit und Rohheit, und habe die letztere gewählt. Ob mit Recht, das wird sich erst entscheiden lassen, wenn man den Erfolg an den Schicksalen zweier Menschen in einigen Jahren wird feststellen können. Meine große Schuld ist, dass ich nicht viel früher diesen Mut gefunden habe. Aber was heißt Schuld in diesen Dingen? Das läuft auf die Frage hinaus, inwieweit man für Willensschwäche und mangelnde Urteilsfähigkeit verantwortlich ist. Ich habe Konflikte immer gern vermieden. Das ist unmoralisch. Zwingt man sich von früh auf, Konflikten nicht aus dem Wege zu gehen, so wird man ein weniger bequemes, aber weit wertvolleres Leben führen. Die unmoralische Art, Konflikte zu vermeiden, ist die, dass man sich selbst vorlügt, es bestehe kein Konflikt.
So geht das noch endlos weiter mit selbstquälerischen Fragen und Zweifeln. Aus Sicht der Enkelin kann ich nur sagen: Gute Entscheidung, lieber Großvater. Hättest du die Frau nicht ziehen lassen, hättest du dich im nächsten Jahr vermutlich nicht in meine Großmutter Vicky verliebt. Und dann hätte es keine Mutter, keine Onkel und Tante und keine 11 Enkel gegeben! Da Detel aber nicht in die Zukunft schauen kann, ist er noch eine Weile unglücklich.
4.8. Was das Leben so ekelhaft macht, ist der Mangel an Zielen. Ich habe zur Zeit gar kein Ziel, und ein Leben ohne Ziel ist wertlos. Meine Wünsche gehen nach wie vor in der Richtung auf die eigene Scholle. Ist landwirtschaftlicher Besitz unerreichbar, so würde mir auch ein vorstädtisches Grundstück mit eigenem Haus genügen. Als Tätigkeit in der Stadt scheint mir diejenige in Staatsdienst immer noch als die angenehmste. Nur sage ich mir, dass diese unter den heutigen Verhältnissen kein auf die Dauer angenehmes sein kann. Es ist nicht möglich, dass der jetzige Staat auf dem Wege ruhiger Entwicklung wieder in vernünftige Bahnen kommt. Soll man jeder noch so radikalen Rechts- oder Linksregierung dienen? Lieber noch dem Diktator. Wenn der das Land mitzureißen versteht, ist es mir egal, ob er von rechts oder links kommt. Bis dahin haben wir aber rettungslos Parteiwirtschaft, und das ist aufs höchste demoralisierend. Man sieht es ja an der jetzigen Regierung. Es geschieht nichts, weil jede unangenehme Maßnahme durch den Widerstand irgendeiner Partei gehemmt und halbiert wird.
Das ist eine sehr interessante Erklärung, warum Detel auch den Nationalsozialisten treu Dienst leisten wird. Er befürwortet die Diktatur! Nicht so verwunderlich, angesichts seiner Herkunft, aber dennoch bemerkenswert und erschreckend anti-demokratisch.
Lieber komme ich hier auf das Kennenlernen meiner Großmutter.