3. August, Deutschland erklärt Frankreich den Krieg. Und noch am selben Tag setzt sich das Kürassierregiment Königin Pommersches Nr. 2. von Pasewalk aus in Bewegung, Richtung Belgien. Mitsamt Dir, Großvater, und Deinen Kumpanen Knebel, Weimar, Puttkamer und Deinem Vetter Bassewitz. Auf der Reise begegnet euch in Haltern der deutsche Botschafter, der am Tag zuvor in Paris die Kriegserklärung überreicht hatte.
Stimmung in Paris soll gefasst und entschlossen sein. So schreibst Du in Dein Tagebuch, und lässt alles nachher von Schwester Leni abtippen. Der Botschafter sei bei seiner Abfahrt von Damen der ersten Gesellschaft insultiert (beschimpft) worden. Coole Frauen. Das Regiment nimmt Quartier in Aachen, um von hier nach Belgien einzumarschieren.
Belgien
Generalstabschef Helmuth von Moltke, Neffe des berühmten preußischen Feldmarschalls, verlangt von Brüssel freien Durchmarsch. Doch König Albert lehnt ab, um nicht „Belgiens Pflichten gegenüber Europa (zu) verraten.“ Hochmodern, die Denke. Er bekommt von Großbritannien dafür auch gleich Rückendeckung, die Briten wollen wegen des völkerrechtswidrigen Einmarsches der Deutschen in Belgien nun auch mitmachen im Krieg. Und tatsächlich trefft ihr schon sehr bald auf britische Soldaten. Aber zunächst marschiert ihr quer durch Belgien auf Lüttich zu.
Die Ulanen mit ihren Lanzen werden plötzlich in dem kleinen Dorf Battice beschossen. Ein paar Deutsche fallen getroffen vom Pferd. Wer hat geschossen? Soldaten nicht, das stellen die Ulanen schnell fest. Also Zivilisten, Partisanen – die sogenannten „Franktireure“. Die Soldaten scheuchen die Bewohner von Battice aus ihren Häusern und brennen das Dorf nieder. Und das, bevor der Krieg überhaupt richtig begonnen hat. Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben. Der deutsche Marsch durch Belgien hinterlässt eine Schneise der Verwüstung, des Leids und des Todes. In mehreren kleinen Städten, Andenne, Seilles, Tamines und Dinant, massakrieren die Deutschen Zivilisten. Männer, Frauen und Kinder. Überlebende erstechen sie mit dem Bajonett oder benutzen sie als lebende Schutzschilde.
Zwischendurch hast Du Zeit, über Deine Ausstattung zu räsonieren. Das Bajonett, auch Seitengewehr genannt. Ein Gewehr mit oben angebrachtem langem Messer, zum Schießen und Fechten. Es hat den alten Degen ersetzt, das Schlachtschwert, die Vorrichtung dafür befindet sich aber noch immer am Pferd. Ich trage zum Beispiel schon seit langem im Sattelhalter am Sattel einen Spazierstock. Den man beim Wandern durch die schlüpfrigen Laufgräben wesentlich besser verwenden kann als das Schlachtschwert. Außerdem ist jetzt für alle Offiziere der Infanterie Seitengewehr vorgeschrieben. Was auch durchaus praktisch ist. Praktisch. Es ist schrecklich, wie nüchtern Du über das Abschlachten von Menschen schreibst, Großvater.
Mehr als 800.000 Belgier fliehen vor euch und euren Bajonetten ins Ausland. Drei Tage lang brennt die schöne alte Universitätsstadt Löwen, ein Schmuckstück an Architektur, Literatur und Kunst. Überall wähnt ihr Deutschen „Franktireurs“ – gut möglich, dass sie nur in eurer Einbildung existieren. Die über 40.000 Einwohner von Löwen verjagt ihr.
Und Du, Großvater, bist mittendrin. Du bist in der Nähe von Lüttich, hörst das Schießen von den Kämpfen dort. Häuser brennen. Dazwischen: deutsche Soldatenlager, die sogenannten „Biwaks“. Die Soldaten zählen ihre Toten: es sind viele. Überall herrscht Chaos. Galopp auf sehr steinigen Chausseen über die Berge. Kein Mensch weiß, ob wir mit Belgien Krieg haben oder Bündnis. Große Hitze. Die Belgier schießen auf jeden Deutschen und werden massenhaft totgeschossen. Das ist absurd. Krieg ist absurd.
Am 7. August regnet es und Lüttich fällt. Ich hab ihn auch bald drauf, diesen nüchternen Stil. Und ihr marschiert weiter, stundenlang sitzt ihr im Sattel, gen Norden. Begegne den Trümmern der Aufklärung Esk. H.12, die von Zivilpersonen, wahrscheinlich Mil. Personen in zivil, fast aufgerieben sind. Riesenmarsch bis St. Trond. Abschlachten verschiedener Zivilisten. Die ganze Nacht die ganze 4. Kav. Division wachend gegen wahrscheinlichen Angriff der Zivilisten. Verschiedentlich wird – mit Verlusten – auf eigene Truppen gefeuert. In St. Trond wird von der Artillerie ein großes Haus in Brand geschossen, um das ev. Schlachtfeld zu beleuchten. Seit 24 Stunden sind die Pferde nicht getränkt. Sehr schlapp. Die Befehle der Führer berücksichtigen dies nicht.
Ich muss mir immer wieder klar machen, dass Du ohne ein Pferd nichts bist. Ein Offizier zu Fuß ist nichts. Die ganze Kriegsführung ist abhängig von den Pferden. Wie 100 Jahre zuvor bewegt sich eure Armee nur dank der Pferde. Die Belgier dagegen benutzen Fahrräder – in der großen Schlacht von Haelen, am 12. August. Sie ist der erste Sieg der Belgier. Der belgische Kommandeur hat eine ganze Kompanie Radfahrer unter sich, und eine andere mit Pionieren. Zum Schießen haben die Radfahrer abzusitzen, und der Attacke der Deutschen mit massivem Gewehrfeuer entgegenzutreten.
Haelen ist für euch eine erste Probe davon, wie anders doch dieser Krieg ist als andere historische Schlachten, wie unvergleichlich brutal und opferreich. Haelen ist die erste Niederlage der Deutschen, mit hunderten Toten und Verwundeten. Du schreibst darüber kurze Zeit später in einem Brief an den Vater: Wer die Attacke angesetzt hat, mag sie selbst vor Gott und Deutschland verantworten. Es war ein großartiges Erlebnis. Und die vier Kavallerie-Regimenter Norddeutschlands haben gezeigt, was sie können (dazu gehörst Du selbst). (…) Die Leute benahmen sich großartig. Ich selbst hatte mir erlaubt, dass ich und wir alle mit einer solchen Wurstigkeit in das Höllenfeuer hinein ritten. Es war nicht anders als auf dem Exerzierplatz. Nur kam der tosende Lärm dazu. Und alle Augenblicke ein Knäuel liegender, steigender und sich überschlagender Pferde und Menschen. (..) Es ist schrecklich, wie schnell man verroht. Abends im Biwak war bei strömendem Sekt und einem Fass Münchner himmlische Stimmung.
Slag van Halen. Quelle: Postkaart. Eigen bezit. Urheber: unbekannt
Großvater Detel, ich versuche mich in Dich hineinzufühlen. Ich stelle mir vor, dass jeder Tag in diesem Krieg so etwas gewesen sein muss wie das Leben in absoluter Potenzierung. Quälende Angst und Erschöpfung, höchste Konzentration, jubelnde Freude, Trauer, archaisches Machtgefühl über Leben und Tod, die ebenso archaische Freude über das eigene Überleben, und dazu dieses: sich wichtig fühlen, sich heldenhaft vorkommen und immer am absolut richtigen Fleck, das hat man euch Soldaten schon ins Hirn gebrannt, immer wieder aufs Neue, auf allen Kriegsschauplätzen. Ich habe gehört, dass sich Soldaten, die eine Schlacht überlebt haben, in einem regelrechten Glücksrausch befinden müssen, einem Rausch, der eine Gefahr in sich birgt: süchtig zu machen. Wenn das ganze noch kollektiv empfunden wird und mit reichlich Alkohol begossen wird, hat es erst Recht das Zeug zum Süchtig machen.
Le truppe tedesche entrano a Bruxelles il 20 agosto 1914. Quelle: scan da I.Montanelli-M.Cervi, „Due secoli di guerre“, vol. VII, De Agostini 1981. Urheber: Unknown
Innerhalb von wenigen Wochen seid ihr durch Belgien gerauscht wie eine Todeswalze und habt das ganze Land eingenommen. Um das eigentliche Ziel: Frankreich, in Augenschein zu nehmen. Auf dem Weg dahin wird niemand verschont, nicht ihr Soldaten, die 30 Kilometer und mehr am Tag marschieren müssen, noch die Bewohner. Am 23. August kommt ihr in Escanaffles an der französischen Grenze an. Wir plündern eine Villa, deren Bewohner fort sind, stark aus.