Am 24. August passiert ihr die französische Grenze. Später erinnerst Du Dich: Es ging vorwärts Tag und Nacht. Die Männer waren todmüde. Bei jeder kleinsten Rast schlief alles in den unmöglichsten Stellungen sofort ein. Feldküchen gab es damals bei der Kavallerie noch nicht. Kamen wir spät abends ins Biwak, so hieß es: „Kochkommandos raus!“ Dann wurden irgendwo ein paar Hammel gegriffen, totgeschlagen, zerlegt, in den Kochtopf getan, und vielleicht um 2 Uhr nachts war dann das Essen glücklich fertig. Dann mussten wir Offiziere jeden Mann einzeln wachrütteln, damit er etwas in den Magen bekam. Spätestens um 4 Uhr früh ging es weiter, Marschrichtung Paris!
Im Gepäck hat Deine Kompanie den Befehl des Oberbefehlshabers Karl von Bülow: „Die 2. Armee greift die Reste der englischen Armee sofort an!“ sowie das Telegramm des Kaisers: „Kein Engländer soll lebend über den Kanal.“
Und tatsächlich ist eure erste Feind-Begegnung in Frankreich nicht die mit Franzosen, sondern mit Briten. Auf dem Weg nach Quievy werdet ihr von deren Granatfeuer begrüßt. Und es begleitet euch bis in den Wald von Compiègne nördlich von Paris.
Jetzt gab es keine Nachtruhe. Warum auch? Wir mussten ja in zwei Tagen in Paris sein! Jetzt waren es nur noch 70 km bis dahin, also vorwärts. So beschreibst Du später Dein erstes Mal im Wald von Compiègne, den Du später noch lieben wirst. Mein Freund Alvensleben und ich, wir beide ritten mit den Spitzenreitern der Division. Vor uns waren nur vereinzelte Patrouillen. So ging es hinein in das gespenstische Dunkel des nächtlichen Waldes von Compiègne. Herrliche uralte Buchen beiderseits der Straße. Ab und an sprang ein Stück Wild ab, das aufgescheucht von dem nächtlichen Spuk ungesehen im meterhohen Farnkraut wegpolterte. Gab es hier Rotwild? Oder waren es Rehe? Leise sprachen wir davon, wie herrlich es sein müsste, wenn hier unter diesen prachtvollen Buchen der starke Hirsch schrie. In 14 Tagen konnte es damit losgehen. Vielleicht konnte man von Paris aus noch mal hierherkommen. Klar, schnell mal eben die Hauptstadt einnehmen und dann fröhlich auf Jagd gehen! Es soll noch ein paar Jahre dauern, bis Du dann endlich Deinen starken Hirsch erlegen kannst, Großvater. Jetzt jagt ihr erstmal Engländer. Plötzlich erschienen auf der schnurgraden Chaussee weit voraus ein paar helle Lichter, anscheinend Scheinwerfer eines Kraftwagens. Das konnte niemand von den unsrigen sein. Schnell die Pferde herunter von der Straße rechts in die Dickung hinein und ein paar Mann mit Karabinern auf die Straße. Langsam schieben sich ein paar mächtige Lastkraftwagen näher heran. Offenbar ohne jede militärische Deckung. Wie sie neben uns sind, springen wir vor, halten sie an, und es stellt sich heraus, dass wir drei englische Militärkraftwagen vor uns haben, die bis oben mit den herrlichsten Lebensmitteln beladen und jeder mit zwei Mann besetzt sind. Die englischen Soldaten, die diese unvorhergesehene Unterbrechung ihrer Fahrt mit dem ihrer Nation eigentümlichen Gleichmut aufnehmen, werden nebeneinander auf der Chaussee aufgestellt und mein Freund Alvensleben redet mit einem gewaltigen Schwall von deutschen Worten und englischen Brocken, unterstützt von sehr drastischen Handbewegungen, auf die Männer ein. Da ertönt in der Stille des feindlichen Waldes aus den Reihen der Engländer eine Stimme: „Oh, aren’t you Mr. v. Alvensleben?“ Sprachloses Staunen! Dann stellt sich bei näherem Nachfragen heraus, dass dieser Engländer (…) jahrelang beim Bruder Alvensleben in Amerika Privatchauffeur gewesen war und den Bruder an der Ähnlichkeit erkannte, die dieser in Sprache und Bewegungen mit seinem früheren Chef hatte. So geschehen am 3. September 1914, morgens 3 Uhr, im Walde von Compiègne. Eine Stunde später beim ersten Büchsenlicht waren wir bei Néry im dicksten Gefecht mit den von uns überraschten Engländern.
Kämpfend und im Zick-Zack bewegt sich die Kompanie immer weiter gen Süd-West, auf Paris zu. Ich werde als Patrouille zur Feststellung des Verbleibs des Feindes vorgesandt, bei Huleux finde ich Infanterie, westlich des Waldes auch Kavallerie, bekomme überall sehr heftiges Feuer, mein Pferd verwundet, werde von Radfahrern und Autos eingekreist und dauernd verfolgt. Ich verkrieche mich im Holz von Rozieres, schlafe 2 Stunden, versuche dann nach Norden durchzubrechen, stoße auf die Husarenbrigade und Schimmelmann, mit dem ich mich im Bois du Roi einigele. Wir gehen nach Droselles ins Biwak, essen im Chateau. Schrapnellfeuer. Fußgefecht gegen Norden, wir liegen lange Zeit in Zuckerrüben, in starkem Infanteriefeuer. Ohne den Feind sehen zu können. Endlich Befehl zum Zurückgehen. Die Pferde von U 9 ( Du wirst damit wahrscheinlich das 2. Pommersche Ulanen-Regiment Nr. 9 meinen) kommen fast geschlossen reiterlos angaloppiert. Später mit vieler Mühe größtenteils wieder eingefangen. Ich habe versucht, herauszufinden, was mit den „U 9“-Reitern passiert sein kann und habe keinen Hinweis auf ein größeres Massaker gefunden – da Deine Truppe gleich am nächsten Tag mit „U 9“ speist, gehe ich davon aus, dass an jenem Tag einfach ein derart heilloses Chaos herrschen muss, ein wahres Schlachtgetümmel eben, dass da schonmal ein ganzes Regiment in die eine Richtung, dessen Pferde in die andere Richtung davon galoppieren. Den nächsten Morgen findet ihr ein kleines Gehöft mit Wasser, Hühnern und Kohl und Vattern Detel selbst kocht daraus eine prachtvolle Suppe für seine Leute. Nur wenig angebrannt. Hinterher badet ihr noch eine Runde im Teich des Schloss-Parks.
Ich erspare dem geneigten Leser, wo genau ihr euch jeweils befindet – jedenfalls immer nördlich von Paris, beim Versuch, näher an die Stadt heranzukommen. Das Land, durch das wir ziehen, ist wundervoll. Ein Paradies für den Landmann. Schönster Hafer steht überall in Hocken. So dass die Pferdeverpflegung vom Biwak sehr einfach ist. Die Verwüstung aber, die wir überall auf den Feldern anrichten, ist über die Maßen ekelhaft. Der größte Teil der Mannschaft hat daran dermaßen Spaß, obwohl sie doch selbst oft Landleute sind. Die Bevölkerung ist größtenteils freundlich und gibt mir Wasser, Milch und was sie haben, ohne Geld dafür annehmen zu wollen. (Das finde ich das Erstaunlichste überhaupt, dass die Bevölkerung freundlich zu diesen Zerstörern ist!) Das einzige, wofür wir Geld ausgeben ist französischer Champagner. Den wir sehr viel brauchen.
Du schreibst diese Zeilen, während Du in einem Straßengraben liegst, in einer schönen Chaussee. Vater Fortunatus braucht sich keine Sorgen zu machen um seinen Jüngsten. Meinetwegen kann dieses Leben noch ruhig eine zeitlang so weitergehen. Ob wir bald siegreich heimkehren könnten? Das wäre ein so schöner Gedanke.
Ich habe neulich den Begriff des „Hurra-Patriotismus“ gelesen. Herrlicher Begriff. Er trifft auf euch frisch gebackene Offiziere des Ersten Weltkriegs vortrefflich zu. Von keinem Zweifel getrübt, eifrigst die Aufgaben erfüllend, die euch das Vaterland auftrug, auch wenn ihr daran zugrunde geht. Du regst Dich auf über das schlechte Benehmen der Truppe, das ehrt Dich, Großvater. Aber Du erwähnst nicht mit einer Silbe, ob Du in dem Gemetzel eigentlich einen Sinn siehst. Oder traust Du Dich das nicht zu schreiben?
Auf dem Weg nach Cambrai sollst Du im Dorf Le Mesnil Requirieren fürs Rgt. – sprich: beschlagnahmen, was nicht niet- und nagelfest ist, um es den armen Dorfbewohnern wegzunehmen und der deutschen Armee einzuverleiben. Ich schäme mich so. Gut, dass bald die Meldung kommt, dass der Feind im Anmarsch ist. Du und Deine 10 Reiter macht euch so schnell es geht auf die Socken.
Deine Einheit wird nach Cambrai vorgeschickt. Ein Etappenort, ein strategisch wichtiger Eisenbahn-Knotenpunkt, Dreh- und Angelpunkt von Proviantkolonnen. Feldmarschall Paul von Hindenburg errichtet hier sein Hauptquartier. Die ganze Organisation ist fabelhaft imposant. Lazarettzüge mit Kriegsopfern werden hier abtransportiert. Die Züge fahren fast bis in die Feuerstellungen und bringen die Verletzten direkt in die Heimat. Voilà: Da ist sie, die gigantische Kriegsmaschinerie. Sie bedient die riesenhafte Kampfzone rund um Paris.
Es sieht schlecht aus für Frankreichs Armee. Bis jetzt sind schon 250.000 ihrer Männer tot, verwundet oder vermisst. Der Krieg scheint verloren, das Land besetzt bis zur Marne. Die Deutschen rücken immer weiter auf Paris zu. Die französische Regierung macht sich schon mal auf die Socken, zieht um nach Bordeaux, der Stadtkommandant von Paris bereitet die Sprengung des Eiffelturms und der Seine-Brücken vor, auch das Staatsarchiv sowie mehrere Zeitungen ziehen mit um. Aber halt! Was ist das? Die Franzosen erkennen, dass die Linie, die sich da auf sie zu bewegt, keineswegs geschlossen ist. Vielmehr tut sich eine Lücke von 40 Kilometern Länge auf. Und wie bekommt man da jetzt ganz schnell die französischen Soldaten hin? Klar, mit dem Taxi!
Hunderte Pariser Taxen bringen in langen Konvois die Soldaten an die Front. „Fahren Sie mich bitte in den Tod.“ Fünf schreckliche Tage lang brandet die Schlacht um Paris, die „Marne“-Schlacht. Dann ziehen sich die Deutschen zurück. Schließlich haben sie es, wenn auch mit Strömen von Blut, geschafft, den Feind zu werfen. So stellst du bitter fest.
Der Plan, Frankreich in sechs Wochen zu besiegen, ist gescheitert.
241.000 deutsche Soldaten sind bis jetzt gefallen, und 306.000 französische (das schreiben Burgdorff und Wiegrefe s.o.). Ihr Lachen, ihre Ideen, ihre Sommersprossen, ihr Samen für neues Leben – ausgelöscht.