Ostpreußen

Du reist in die Masuren. Nein, es muss heißen: nach Masuren. Heute gehört das Gebiet zu Polen, zu Deiner Zeit gehört Masuren zu Ostpreußen, Ostpreußen ist der östlichste Landesteil Deutschlands. Und das heißt es zu verteidigen, denn russische Truppen sind weit in Ostpreußen eingedrungen.

Für die Verteidigung Ostpreußens wird der 66-jährige General Paul von Hindenburg aus dem Ruhestand geholt, ihm wird Erich Ludendorff an die Seite gestellt. Gleich zu Beginn des Kriegs hatte die deutsche Armee in Tannenberg in Masuren unter dem Oberbefehl von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff erfolgreich die Russen geschlagen. Die „Schlacht von Tannenberg“ wurde zur deutschen Legende, nach den vielen Misserfolgen wurde der Sieg von der deutschen Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen. 50.000 Russen fielen, 92.000 wurden gefangen genommen. Hindenburg hieß von  nun an der „Held von Tannenberg“. Als Werbung für Kriegsanleihen werden in den Städten Deutschlands riesige Holzstatuen Hindenburgs aufgestellt, man kann gegen Geld einen Nagel reinhämmern, als Spende. Aber Tannenberg kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Russen stark sind, die deutschen Truppen im Osten brauchen Verstärkung, also zieht man Soldaten von der Westfront ab und schickt sie per Bahn gen Osten. Voilà. Dich also auch, Großvater.

Du sitzt im Zug. Als er durch Berlin rollt, ist der Lehrter Bahnhof schwarz von Menschen. Angehörige, Freunde und Bekannte stehen auf dem Bahnsteig, um ihren Lieben noch einmal wenigstens kurz in die Augen blicken zu können. Dein Onkel Carl ist da. Und die Frau von Deinem Vetter Gerd. Schwanger. Es wird für sie wohl das letzte Mal sein, dass sie ihren Mann sieht. Und auch die Kaiserin ist da. Sie stand mitten unter den anderen Müttern, Vätern und Schwestern, in den Schienen des Güterbahnhofs. (..) Und als der Kommandeur noch ein paar Worte sprach und ein Hurra auf sie ausbrachte, kullerten ihr die dicken Tränen aus den Augen.

Es ist November, nicht die beste Jahreszeit, um gen Nordost zu fahren. Masuren ist schneebedeckt  und bitterkalt. Das erste, was Du von dort von Dir hören lässt, ist: Wenn irgend möglich schenkt mir bitte warme Sachen.

Von der Ortschaft Janowo aus unternehmt ihr Märsche über die Grenze nach Polen, und werdet von heftigem Gewehrfeuer empfangen. Trotzdem arbeitet ihr euch langsam nach Süden vor, auf Warschau zu.

File:Bundesarchiv Bild 183-S34205, Ostfront, Nachschub-Kolonne.jpg

Ostfront, Nachschub-Kolonne
Weltkrieg 1914. Deutsche Trainfahrzeuge auf dem Wege ins östliche Feindesland. 24867/14 Quelle:br />German Federal Archives Link back to Institution infobox template wikidata:Q685753 Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183)

In Dzbonie, 100 Kilometer nördlich von Warschau, kommt es zur großen Schlacht. Deine  Soldaten rücken zu Fuß in das kleine Dorf ein, es ist schon dunkel, der Chef Kameke an der Spitze der Truppe nimmt mit seinen Leuten einen anderen Weg, Dein Trupp ist früher da. Mit dem Ergebnis, das Kameke eine Stunde vor dem Dorf bleibt, weil er glaubt, es sei von Russen besetzt.

Morgens um 7 Uhr greifen die Russen an. Ich besetze unter starkem Feuer die Chaussee links des Dorfes. Mehrere Leute fallen. Wir müssen abbauen, liegen noch stundenlang in strengem Strichfeuer, bis uns die Infanterie ablöst. Starke Verluste. Essen in Lipa, seit 2 Tagen wieder. Dann Quartier nördlich Wolja. (Wola) Schlafen zu 8 in einer Bauernküche. Sehr gemütlich.

Als das ganze Donnerwetter vorbei ist, räsonnierst Du: Das Regiment hat in den 11 Tagen des Feldzuges so viele Verluste gehabt wie im ganzen Krieg noch nicht. Augenblicklich freuen wir uns wie die Kinder unseres Daseins. (…) Die Quartiere der letzten Nächte waren lächerlich. Bald im Kuhstall, bald in einer Bauernküche, aber man schläft überall gleich gut. Und das Zusammensetzen abends am Herdfeuer zu 10 Mann in verräucherten Lokal mit einer halben dutzend schweigender Polenkinder, die uns anstarren, ist fabelhaft gemütlich.

Damit ich das Wort „gemütlich“ in Zukunft jemals wieder benutzen kann, muss ich es jetzt erstmal neu definieren. „Gemütlich“ heißt also: ich habe überlebt! Ich sitze hier mit meinen Kameraden, wir haben alle überlebt, es ist warm, es ist trocken, es riecht nach Leben, einer  lacht so wie es auch in mir gerade lacht, und das Feuer prasselt so schön, dass ich heulen könnte … ist es das so in etwa, Großvater?

Mein Gott, was hast Du erlebt! Kann ich das überhaupt nachvollziehen? Während ich mich kolossal darüber aufrege, dass ich mich in diesem Satz drei Mal vertippt habe, hast Du Kälte, Angst, Todesgefahr, Wut, Mut, Kampfesrausch, in jedem Falle aber Hunger, und das befriedigende Gefühl des Essens erlebt. Und die Müdigkeit, und das selige Bewusstsein, endlich schlafen zu können. Nein, ich bin nicht neidisch. Ich möchte da jetzt nicht im Sumpf sitzen, bei minus 15 Grad, und in dem Bewusstsein, dass ich jeden Moment tot sein kann, weil mich jemand unbedingt umbringen will. Aber ich frage mich schon, um ein wie viel-eigentlich-faches? intensiver ihr gelebt habt als wir heutzutage. Diese Frage muss erlaubt sein, auch wenn sie kriegsverherrlichend klingen mag.

Aber Zeit zum Nachdenken habt ihr nicht. Es geht weiter. Gen Osten, Deine Division schlägt sich zwischen Salven von Gewehrfeuer durch, bezieht nachts Quartier in einem leeren Gutshof. Wir essen bei einem freundlichen Arbeiter einige Kartoffeln. Man sieht Kosaken. Kosaken, das klingt schon so wild und frei, nach Reitern aus den fernöstlichen  Steppen, skrupellosen Abenteurern und Abtrünnigen. Zu dem Zeitpunkt aber längst nicht mehr so frei wie sie einmal waren, sondern längst integriert in die russische Armee.

Dann im Eilmarsch wieder gen Norden, über tief gefrorene Äcker und über Straßen, deren Zustand jeder Beschreibung spottet, gen Masuren, zurück in deutsches Gebiet, das allerdings von der russische Armee besetzt ist und jetzt wieder „befreit“ werden soll. Wir erkämpfen uns mit dem Karabiner Dorf für Dorf, Wilhelmsthal, Kelbassen, Liebenberg …Tagelang ringen Deutsche und Russen um den Besitz der Dörfer. Die Kriegsführung ist hier total anders als in Frankreich, viel unmoderner. Kommt man auf Patrouille durch ein Dorf nicht hindurch, so schießt man solange hinein, bis die Besatzung auskneift. Das wäre einem in Frankreich übel bekommen, besonders den Engländern gegenüber. Die hätten gar nicht daran gedacht, ihre Stellung zu verlassen.

Klingt fast wie ein Chapeau gegenüber den westlichen Feinden. Jedenfalls eindeutig höhnisch gegenüber den östlichen Feinden, klar, die sind nicht nur unmodern und kneifen, sie haben auch noch Flöhe: Da wir in Quartier wohnen, in dem bis vor vier Tagen wochenlang Russen gehaust haben, wimmelt es von Flöhen.

Um das kleine Dorf Liebenberg halten zu können, bekommen die deutschen Truppen Verstärkung von zwei Kanonen. Es ist Deine Aufgabe, sie zu bewachen, oben auf dem Liebenberg.

Ihr richtet euch häuslich ein, begründet eure Anwesenheit und kriegerische Tätigkeit zur Versorgung der Bevölkerung und der absoluten Freihaltung deutschen Gebietes von Russen. Es ist inzwischen Mitte Dezember, Kälte und Flöhe lassen euch ins Schulhaus fliehen. Hier gibt es richtige Betten, allerdings ohne Bettwäsche. Mein Nebenzimmer ist unser Casino, wo wir täglich zwei sehr intensive warme Mahlzeiten einnehmen, außerdem den Morgenkaffee mit Eiern und viel kaltem Aufschnitt. Mein Gewicht hat jetzt bereits den Friedensstand überschritten. In den beiden Klassenzimmern verbringen wir gepflegte Nachmittage. Zum Adventsgottesdienst ist der größte Teil der Zivilbevölkerung des Dorfes erschienen, dazu etwa 30 Kürassiere und ebenso viele Landsturmleute. Einer von diesen, Theologe, hielt eine kurze, nicht sehr inhaltsvolle Predigt, es wurden Weihnachtslieder gesungen, und nach dem Segen las ich „der letzte große Reichskanzler“ aus der Zeitung vor. Mit „Deutschland über alles“ schloss die Sache.

Die russische Grenze ist nicht weit, täglich gehen Soldaten rüber und treiben an Vieh zusammen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Was wir nicht aufessen, wird an die am meisten Ausgeplünderten verteilt. Du findest das nicht in Ordnung. Nicht „die Russen“ würden damit gestraft, sondern nur die unschuldige Landbevölkerung.

Den kalten Aufschnitt lehnst Du aber trotzdem nicht ab. Und wenn Du schon mal beim feinen Leben bist: Ob Vatern bitte dem Rostocker Zigarrenhändler mitteilen könnte, dass er Dir  jeden zweiten Tag etwa 10 Zigarren schicken möge?

Klingt alles sehr entspannt, kaum erwähnst Du die täglichen Scharmützel um irgendwelche Dörfer, die Deine Soldaten mit russischen Soldaten haben – Du nennst sie völlig cool „Felddienstübungen“, erwähnst aber, dass dabei täglich ein bis zwei Kameraden umkommen.

Dann heißt es Abschied nehmen von Liebenberg, es geht nach Roggen in den südlichen Masuren. Hier feiert die Truppe Weihnachten. Das verlassene und teilweise zerstörte Forsthaus des Dorfes hatten wir reinigen und heizen lassen und so einen ganz netten Raum gewonnen, in dem wir abends die Schwadron versammeln konnten, um einen Tannenbaum selbstverständlich. Singen einiger Weihnachtslieder, Weihnachtsevangelium, Verteilen der Geschenke … Pfannkuchen und Punsch. Große Stimmung. Und 700 Berliner, die eigens gebacken wurden. Du bekommst aus der Heimat Pakete mit einem warmen Mantel, der Pelzkragen ist reizend aufmontiert und macht mich ungemein wohlhabend aussehend. Außerdem Wäsche, Torte und Schokolade. Was wir an Essbarem von Zuhause geschickt bekommen, wandert, so es nicht auf der Stelle verzehrt oder in der Satteltasche unterwegs mitgenommen wird, alles in einen großen Kasten auf den Schwadronwagen.

Und auch die Heimatkaserne schickt Geschenke: Jeder Offizier hat ein Stück Honigkuchen und eine hübsche lederne Zigarettentasche mit Namenszug bekommen. Die Mannschaften sehr schöne, warme Sachen.

Die täglichen „Felddienstübungen“ gehen weiter, doch die Soldaten vergessen nicht, dass es Weihnachten ist, kaum war der letzte Schuss gefallen, … da fing die ganze Schwadron an, „Stille Nacht Heilige Nacht“ zu singen. Das klingt im nächtlichen russischen Wald fast noch feierlicher als in den russischen Kirchen.

Das erste Kriegsjahr geht in den Masuren ruhig zu Ende. Wobei man das Wort „ruhig“ wahrscheinlich auch noch einmal neu definieren müsste.

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