Die Silvesternacht verbringst Du also bei eisigen Temperaturen draußen in der Stellung. Mitsamt einer Flasche Burgunderpunsch und einer Flasche Rotwein. Die Russen haben keinen Sinn fürs Feiern und schießen immer wieder in eure Stellung. Nachdem einer Deiner Männer dadurch stirbt, vergeht auch Dir der letzte Sinn fürs Feiern. Ich erlebe Dich ziemlich hoffnungslos. Du möchtest nach Hause, aber man wird Dir so bald keinen Urlaub geben. Du müsstest dafür schon dringende wirtschaftliche oder gesundheitliche Gründe angeben – und die auch belegen können, um die Oberen überzeugen zu können. Außerdem herrscht überall an den Fronten Offiziersknappheit, weshalb man schon ein paar Deiner Offizierskollegen für ein paar Wochen anderswohin geschickt hat, damit sie dort aushelfen – zur Not auch in fachfremden Gebieten. „Wer im Frieden einem gesunden Kavallerieoffizier vorgeschlagen hätte, die Führung einer Landsturmkompanie zu übernehmen, der wäre für verrückt erklärt worden. Die Ansichten ändern sich.“
Vater Fortunatus schlägt vor, noch einmal, ob Du nicht bei der Zivilverwaltung von Kurland anheuern willst. Aber Du lehnst ab. „Vorläufig macht sie nur größten Blödsinn, kostet das Reich ein haarsträubendes Geld und hat eine täglich größer werdende Last hochbesoldeter Beamter, die entweder nichts tun oder subalterne Dienste leisten. Nur der Chef arbeitet. Die Beamten sind meistens irgendwelche Grandseigneurs, die im landsturmpflichtigen Alter und früher zurück gestellt sind, jetzt aber ihre Einberufung zur Fahne befürchten.“
Du beschwerst Dich über die gesamte Verwaltung der Deutschen im Osten. „Ober Ost“ nennt die sich, sie umfasst das ganze Gebiet des Oberbefehlshabers der deutschen Streitkräfte im Osten. Ihr oberstes Ziel ist es, das Land, wo es geht, landwirtschaftlich auszubeuten, um den Hunger zuhause etwas zu stillen. Einheimische Arbeitskräfte werden zwangsbeschäftigt, die Arbeitsgeräte beschlagnahmt. Irgendjemand aus „Ober Ost“ will die großen Landmaschinen im Lande dazu nutzen, auf den verwaisten Gütern der Gegend die Landwirtschaft weiterzubetreiben - und das mitten im Winter. „So jagt ein Blödsinn hier dauernd den anderen.“
Du hast andere Sorgen als die Landwirtschaft: Du darfst Dich immer nur 8 Tage in Tittelmünde aufhalten, dann musst Du mitsamt Deinen Untergebenen für die nächsten 8 Tage an die Front – in den Wald, offenbar ein Sumpfgelände, das wegen Tauwetters ständig unter Wasser steht. „Unsere Stellungen waren schon fast unhaltbar geworden. An vielen Stellen stand bis zu einem halben Meter Wasser, nirgends unter 10 Zentimeter, auch in den Unterständen. Der Wall war 10 Zentimeter gesackt.“ Das Wasser sickert durch den Fußboden der Erd-Zimmer. Selbst das Anheben des Bodens nützt nicht viel. Es wird immer schlimmer. Plötzliches Tauwetter lässt die Soldaten regelrecht absaufen. „In Bächen ergoss es sich von allen Seiten in die Stellung. Das ganze Gelände dahinter und davor ist wie ein großer See, (…). Sämtliche Wege von hinten zur Stellung, auf denen sich den ganzen Tag der regste Verkehr abspielt, stehen mindestens 12 Zentimeter unter Wasser. Mit fieberhafter Eile werden Brücken und Stege gebaut. Aber die überschwemmten Wege sind kilometerweit und Arbeitskräfte sind nur wenige.“ Du glaubst zunächst an eine Tücke der Russen. Denn zwischen den Feinden fließt ein Fluss, und es könnte ja sein, dass die Russen irgendwo Schleusen geöffnet und Dämme durchstoßen haben. „Aber gestern sah ich zu meiner großen Beruhigung, dass die Russen stundenlang Wasser aus ihren Stellungen in großen Mengen über die Brustwehr hinaus beförderten. Also geht es ihnen ebenso wie uns.“ Du hast zum Glück eine sehr gute Gesundheit, auch dauernde Feuchtigkeit und Kälte können Dir nichts anhaben.
Weil Du die Soldaten eines kranken Offiziers mit übernommen hast, musst Du zeitweilig über 350, statt wie sonst über 50 Soldaten befehlen. Du bist entsetzt über die Dickfälligkeit vieler. „Erschwerend kommt die völlige Ahnungslosigkeit aller 17 und 18-jährigen Kriegsoffiziere hinzu. Denen man fortwährend helfen muss, ihren Willen durchzusetzen, weil sie es allein nicht können.“
Du hängst den halben Tag an der Telefonstrippe, und bestellst „unendliche Mengen an Dachpappe, Stacheldraht, Handgranaten, Leuchtpistolen usw. und kriege nur die Hälfte davon.“ Andere Dinge sind wenige Tage später da. Schneemäntel, Eissporen gegen das Ausrutschen auf Glatteis, Pelzschuhe. Da kann der Schnee kommen.
Ein bisschen Kultur bekommst Du aber zum Glück auch noch mit, dank des nahe gelegenen Mitau. Du willst Dich mit den „Töchtern des Lands“ treffen. Damit meinst Du die deutsch-baltischen „Töchter“. Irgendwie ergatterst Du eine Einladung zum Tee bei einer „Frau von Gerstorf. (…) Es war ein ganz eigenartiges Gefühl, nach Verlauf fast eines Jahres mal wieder in einem gut gehaltenen, von Frauenhänden gepflegten Haushalt zu sitzen.“
Außer der Frau und Tochter des Hauses ist noch „ein sehr nettes Fräulein von der Kopp dort.“ Ihr Bruder kämpft auf Seiten der Russen an der Düna. „Sie behauptete, dass sie trotzdem grunddeutsch gesinnt sei. Und war sehr pikiert, als ich das bezweifelte.“ Es muss schlimm sein für die Deutsch-Balten. Sie sind deutsch, müssen aber gegen die Deutschen kämpfen. Und werden vertrieben, egal wie sie fühlen.
In Mitau herrscht großer Schlittschuhlauf-Betrieb. „Sonntags spielt immer eine Militärkapelle auf der Eisbahn. Ab und zu kommt dann ein russischer Flieger und legt sein Ei dazwischen. Und von der Front hört man fortgesetzt lautes Kanonenschießen. Komische Bilder.“
Im Februar bekommst Du endlich Urlaub. Das erste Mal seit einem Jahr. Zwei Wochen bist Du zuhause und lässt Dich pflegen und betütern.
Kaum bist Du wieder an der Front, sollst Du südlich von Riga eine Landsturmbatallion übernehmen, die mal wieder in einem Sumpf liegt. Zum Glück steht hier nicht das Wasser. „Ich habe einen Abschnitt von 1500 Metern und dazu 180 Mann zur Verfügung, also sehr schwache Besetzung.“ Der Russe liegt nur wenige 100 Meter weiter weg. Deine Unterkunft, ein einfaches, aber sauberes Blockhaus, liegt direkt hinter der Front. Die neuen Kollegen empfangen Dich sehr herzlich. Landstürmer, das ist sozusagen das letzte Aufgebot aller Wehrpflichtigen. Sie werden in zwei Altersklassen eingeteilt: die 17- bis 39-jährigen. Und die 39- bis 42-jährigen. Du bekommst die Älteren ab. „Meine Zugführer sind ein Feldleutnant und drei Offizierstellvertreter. Von den letzteren war einer bei meiner Ankunft besoffen. Alles alte Leute aus teilweise sehr achtbaren Zivilstellungen. Auch die Mannschaften sind fast durchweg ältere Kerls. Um die 40 herum, mit großen Vollbärten. Sie tun langsam und bedächtig ihre Arbeit.“ Hannoveraner.
Dank größerer Lebenserfahrung sehen die Kerls von der „Alten Garde“, wie Du sie nun nennst, „oft besser als unsere Kürassiere, dass die Arbeit, die man von ihnen verlangt, zu ihrem eigenen Vorteil ist.“ Mit einem von ihnen Bierchen trinken gehen willst Du aber nicht. Ob Du den Altersunterschied mit umso größerer Klappe wettzumachen versuchst? Hier und da vielleicht schon. Mit zweifelhaftem Erfolg. „Man muss die Kerls mit Samthandschuhen anfassen. Als ich neulich einem ziemlich grob wurde, fing er gleich an zu heulen.“
Du tröstest Dich mit schwesterlichem Apfelmus, Wurst und Süßigkeiten, später auch noch mit Honig und Schokolade. Wenigstens funktioniert die Familie wie sie soll. Du ziehst um in ein Dorf aus Blockhäusern, 4 Kilometer hinter der Front. Die Bauernhäuschen sind anderswo abgerissen worden, hier werden sie nun in etwas anderer Form wieder aufgebaut, mitten im Wald. „Es wird eine Heidenkonfusion geben, wenn einmal die Besitzer wieder kommen und ihre Heimstätten suchen. Einige werden sie weit entfernt wieder finden. Andere wiederum werden auf ihrem Grund und Boden große und sauber gebaute Ansiedlungen finden.“ Die Möbel hat ein geschickter Soldat aus Birkenholz gemacht. Das Dach ist nicht regen- und auch nicht schrapnelldicht. Du dichtest es mit dicken Balken ab. An der Front wird schwer gekämpft. Die Russen ballern ab, was sie haben. Einen Angriff kann man das nicht nennen, meinst Du. „Sie müssen wohl so tun, als ob sie Frankreich entlasten wollen. Sie vergeuden eine Unmenge Artilleriemunition uns gegenüber.“
Der Frühling kommt, und mit ihm eine Überschwemmung nach der nächsten. Vor allem in Tittelmünde. Die Aa trägt Eisschollen, aber nicht nur. „Dazwischen losgerissene Birken, Stege, Badehäuschen, Boote, auch ein beladenes Fuder Stroh. Nachmittags kam die Sache zum Stehen. Es staute sich an den Mitauer Brücken, die unsere Pioniere glücklicherweise so stabil gebaut haben, dass dort keine Einsturzgefahr besteht. Infolgedessen stieg das Wasser fabelhaft schnell und hoch. Alle Äcker und Wiesen waren an beiden Ufern kilometerweit überschwemmt.“
Auch in Deinem Sumpf bei Riga steht das Wasser. Und kann nicht in den frostharten Boden einsickern – im April. Einige hundert Meter Damm werden vom einen Ende der Stellung zum anderen angelegt, damit ihr nicht überall bis zum Knie einsackt, sondern trockenen Fußes hier durch könnt. Eine Schwerstarbeit. Kaum ist sie erledigt und die Wassergefahr gebannt, macht ein anderes Naturelement Probleme: „so verrückt es klingt, das Feuer. Nachdem es zwei Tage lang trocken war, geriet in Folge eines Schusses mit der Leuchtpistole abends das Heidekraut etwa 150 Meter vor meinem Drahtverhau in Brand. In ganz kurzer Zeit standen drei bis vier breite Streifen Heide von etwa 400 Metern Länge in hellen Flammen. Das Feuer warf sich um die unzähligen großen und kleinen Wasserlachen herum, vom Winde immer wieder bis auf die nächste höhere Stelle getrieben. (…) So zog sich dann das Feuer langsam bis zur russischen Stellung hin. Nach zwei Stunden hatte es diese erreicht. Die Russen löschten es krampfhaft und bekamen es nach einiger Zeit glücklich aus. Eins unserer Maschinengewehre störte sie gemeinerweise noch dabei.“ Keine schlechte Idee, so ein Feuer, denken Deine Leute daraufhin, und versuchen selbst, eines zu legen. Ohne Erfolg. Sie wollen es später noch einmal versuchen.
Deine Befehlshaber verlangen, dass als Feuerschutz sofort ein 1,5 Kilometer langer Graben vor der Front gezogen werden soll. Unmöglich, meinst Du, bei dem zum Teil noch froststarren, zum Teil unergründlichen Boden.
Übermäßig viel zu tun hast Du nicht. „Abends habe ich meine Anordnung für die Arbeiten des nächsten Tages zu treffen und eine halbe Stunde mit dem Feldwebel schriftlich zu arbeiten. Morgens genügt ein Gang von höchstens einer Stunde durch die Stellung, um alles genügend zu beschimpfen. Dann sitzt man den Rest des Tages herum, lesend und schreibend. Mittags und abends ist meistens recht vergnügte Tafelrunde mit anschließendem Skat in unserem Kasino. Nur wenn das Wetter gar zu schlecht ist, schenke ich mir den Weg dahin und lasse mir selbst in meinem Unterstand vom Burschen etwas zurecht kochen.“
Zur Rheinwein-Probe gehst Du dann aber doch ins Kasino. „Einer von den Kompanieführern, ein Rheinländer und sehr netter Kerl, hatte zwei große Kisten schönster heimischer Gewächse bekommen, was sehr zur Hebung der allgemeinen Stimmung beitrug.“
Nach drei Monaten feierst Du Deinen Abschied von den Landstürmern, mit viel Sekt und Rotwein, mit Kapelle und Trara. „Zum Schluss kommandierte ich einen Parademarsch sämtlicher anwesenden Offiziere. Dann fuhren Quast und ich unter den Klängen des Hohenfriedberger Marsches und dem brausenden Hurra des versammelten Volkes von dannen. Auf halbem Wege hatten wir uns unsere Pferde entgegen kommen lassen, um standesgemäß wieder einziehen zu können.“
Pünktlich zur Maifeier bist Du wieder in Tittelmünde. „Um 11 Uhr feierlicher Umzug mit Fackeln an die Aa. Abbrennen eines Holzstoßes unter dem Gesang: der Mai ist gekommen. Sehr hübsch und stimmungsvoll.“ Es scheint nicht groß Krieg zu herrschen in Tittelmünde. Bei strahlendem Sommerwetter sind vormittags Reitübungen angesagt, nachmittags Schieß-Übungen, „Instruktionen, Reiten, Baden, Fußball usw. Für einige Zeit ist das Leben prachtvoll. Aber geistiger Tätigkeit entwöhnt man sich mehr und mehr.“
Doch auch die Tage in Tittelmünde sind gezählt. „Wir sollen angeblich in einigen Tagen in eine andere Gegend von Kurland verpflanzt werden, um dort landwirtschaftliche Arbeiten zu machen. Der größte Teil der Offiziere wird abkommandiert. Was davon wahr ist, bleibt abzuwarten.“ Dass Soldaten jetzt Frühjahrsbestellung der Äcker machen sollen, findest Du lächerlich. Du vermutest andere Gründe hinter der Anordnung, rätselst herum, welche. Vielleicht eine große Offensive der Deutschen im Osten? Wohl eher nicht. Aber es wird schon alles seine Ordnung haben. „Ich habe ein blindes Vertrauen zu Kaiser und Kanzler und finde die Haltung der konservativen Presse, die mir in teilweise verantwortungslosen Ausdrücken über die Schlappheit der Regierung schimpft, empörend und politisch so unklug wie nur möglich.“
Weil Du so treu bist, gibt es das nächste Kreuz, das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Dieses Eiserne Kreuz, davon hast Du schon eins, es gibt drei – das zweiter Klasse, das erster Klasse, und dann das Großkreuz. Es ist ein schwarzes Kreuz auf Eisengrund, mit sich verbreiternden Balkenenden – so sah auch das Kreuz des Deutschen Ordens aus, das der Deutschritter aus dem 14. Jahrhundert. Die deutschen Kriege sollten damit in den Glanz und die Glorie der mittelalterlichen Kreuzzüge gerückt werden. Du weißt, wahrscheinlich auch dank der Erzählungen von Vater Fortunatus, dass der Erste Weltkrieg mit keinem der früheren Schlachtengetümmel auch nur entfernt vergleichbar ist – damals hatten die Männer schließlich noch Schwert an Schwert gegeneinander gekämpft, nicht wie jetzt pausenlos Maschinengewehrsalven nach drüben schicken und hoffen, dass möglichst viele krepieren. Dir ist schon länger klar, dass eine Entscheidung nicht mehr mit militärischen Mitteln herbeigeführt werden kann. Euer Kampf ist längst zu einem „Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg“ geworden, in dem persönliche Leistung und Tapferkeit nichts ausrichten können. So beschreibt es Wolfgang J. Mommsen. (Der erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Fischer Verlag 2004) Und Du beschreibst es so: „Man hat in der langen Zeit des verhältnismäßig ruhigen und langen Stellungskrieges etwas das Gefühl verloren, sich die Auszeichnung ehrlich im Kampfe verdient zu haben.“
Was zählt, ist die abendliche „feierliche Abfütterung der Dekorierten beim Regimentsstab.“ Du schickst zum Beweis die Speisekarte mit: Russische Vorspeise, Frühlingssuppe, Rehkeule mit frischen Spargeln, eingemachte Nüsse (!), Salat, Stabreis, Butter und Käse, Radieschen und Konfekt. Komische Mischung, Radieschen und Konfekt.
Aber auch, wenn so ein Kreuz nicht mehr viel wert ist – was ist, wenn Du es verlierst? „Man verliert es so leicht.“ Vater Fortunatus muss eine Nachbildung kaufen und Dir schicken – das Original schickst Du nach Hause. Für alle Fälle.
Deine Schwadron hat sich in Billenhof in der Nähe von Mitau einen kleinen, verlassenen Gutshof angeeignet, der völlig herunter gekommen ist. „Bestialischer Gestank überall, fehlende Türen und Fenster, demolierte Wände und kein Stück Möbel. Binnen 24 Stunden haben wir mit in Mitau gekauften Tapeten den größten Teil des Hauses frisch tapeziert. Dann alles gescheuert und entlaust und mit Hilfe der Tittelmünder Möbel entstand ein Herrenhaus, das es an Geschmack und Gemütlichkeit mit der Einrichtung mit manchem kleinen deutschen Gutshaus aufnehmen kann.“ Jetzt kann der Nachwuchs in Reiten, Schießen und Exerzieren gedrillt werden. Und Landwirtschaft betrieben werden. „Das Säen Mitte Mai scheint hierzulande nichts Ungewöhnliches zu sein. Der Winter dauert häufig so lange.“
Im Juni kommt der Kaiser nach Mitau. Du bist als Zuschauer dabei. „Der Kaiser sah wohl aus, das weiße Haar steht ihm ausgezeichnet. Innerlich musste ich doch etwas lachen, als der berühmteste Mann Deutschlands: Hindenburg (…) ganz wacker seine Beine im Parademarsch warf. Im übrigen war alles würdig und schön.“ Aha, Hindenburgs Beine waren also nicht so würdig und schön. Der Mann ist Oberbefehlshaber Ost, von ihm wird noch viel zu sprechen sein. Aber jetzt ist der Kaiser da, der ist – noch – wichtiger als Hindenburg, und er sagt, das Land, auf dem er nun stehe, sei uralter deutscher Boden. Und deutsch solle er, so Gott will, bleiben. Schon ganz schön dreist und anmaßend gegenüber Gott und den Russen, der Wilhelm. Gar nichts ist da urdeutsch, nur weil ein paar deutsche Ritter ein paar Jahrhunderte vorher meinten, dies sei ein schöner Platz zum Morden. Aber das sind meine Gedanken. Deine sind beseelt, in Briefen beschreibst Du alles haarklein, von der körperlichen Position des Kaisers im Kirchenschiff bis zum einzig noch heilen Kirchenfenster. „Große allgemeine Seligkeit.“ Ohne fließenden Übergang bittest Du Vater Fortunatus dann im Brief um Flintenpatronen, „denn aus Mangel an anderem Fleisch ernähren wir uns hauptsächlich von übrigens sehr wohlschmeckenden Saatkrähen.“
70 Stück davon bringt ihr an einem Tag um. Du kriegst sie runter dank Schwester Lenis Erdbeersendung und Vaters Schokoladen-Gabe. Die ersten, die das schwarze Federvieh essen mussten, sozusagen als Vorkoster, waren die Burschen, die Knechte. Nachdem die zu ihrem großen Erstaunen feststellten, dass die Krähen so wie Tauben schmecken, ist auch bei euch Oberen kein Halten mehr.
Aber Du hast nicht mehr viel Zeit, noch mehr Krähen abzuknallen. Mitte Juni heißt es: Koffer packen, Aufbruch. Ziel unbekannt.
Es geht raus aus Kurland. Und Du bekommst nicht mehr mit, dass die Deutschen in Kurland jetzt im Grunde genommen genau dasselbe tun wie die Russen zuvor: hatten die zuvor das Deutsche im Lande unterdrückt, damit das Russische die Überhand gewinne, geschieht es jetzt genau umgekehrt: Die Deutschen unterdrücken jede antideutsche Stimme in der öffentlichen Meinung. Sie führen eine weitgehende Buch- und Zeitungszensur ein. Unterwerfen das Schulsystem einem deutschen Kulturprogramm. Erschweren nichtdeutschen Einheimischen den Zugang zur Hochschule, um eine gebildete Elite und damit eine mögliche Keimzelle des Widerstands zu verhindern.
Kurland aber wird nicht mehr lange deutsch sein. Im Friedensvertrag von Brest-Litowsk vom März 1918 steht zwar, dass Kurland von Russland abgetrennt würde. Aber Deutschland verliert den Krieg im November 1918. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk wird aufgehoben, und die Sowjetregierung erklärt, dass sie sich nicht mehr an die darin stehenden Bestimmungen halten werde. Der bolschewistische Vormarsch beginnt. Die Rote Armee besetzt Riga. Die Deutschen hauen ab.
Der Lettische Volksrat ruft die unabhängige Republik Lettland aus, dazu gehört auch Kurland. Nach Kämpfen zwischen bolschewistischen auf der einen Seite und deutsch-baltischen und lettischen Truppen auf der anderen erkennt die Sowjetunion 1920 die Unabhängigkeit Lettlands an. Die Republik Lettland steht. Sie existiert bis 1940. Dann okkupiert die Rote Armee das Land, Lettland wird zur Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik – bis 1941 erneut die Deutschen einfallen – sie besetzen das Land bis 1944. Kurland hat noch einmal eine eigene Verwaltung – bis erneut die Sowjetunion Einzug hält. Erst 1990, nach dem Fall des eisernen Vorhangs, wird Lettland wieder unabhängig.