Großvater Detel, ich stelle mir vor, wie Du durch die Straßen des kleinen Städtchens Lausanne schlenderst, ein hochaufgeschossener junger Mann in Kurzmantel, gelangweilt. Auf der Suche nach Beschäftigung und nach neuen Freunden. Du bist 18 und zum Studieren hier. Naja, oder was man so nennt. Du bist zumindest eingeschrieben, in der juristischen Fakultät. Aber ohne Freunde ist das ziemlich öde. Da es schrecklich schwer ist, Anschluss an irgendwelche Leute zu bekommen. Die einigermaßen gute Gesellschaft ist überhaupt derart exklusiv, dass es mir vorläufig vollständig rätselhaft ist, wie man hineinkommen könnte. Aber schon bald bekommst Du Verstärkung: Deine Freunde Viereck und Bismarck aus Rostock kommen, auch sie, um hier zu „studieren“. Mit ihnen bist Du viel unterwegs, im Winter 1904/05 heißt das vor allem: auf Schiern oder dem Schlitten – jedenfalls mit einer fabelhaften Geschwindigkeit. Ganz Lausanne setzt sich auf den Schlitten, auch die älteren Engländer und Engländerinnen. Und natürlich die Ureinwohner, schon mal ganz unbekümmert mit Säugling im Arm.
Einmal die Woche schreibst Du nach Hause. Zuerst habe ich mich darüber gewundert. Da hat er endlich den Sprung aus dem behüteten Elternhaus geschafft und hängt doch so sehr daran? So hab ich gedacht. Aber nein, es ist wohl ganz und gar profan: Tante Bille erzählte mir, dass auch Dein Bruder Willi, eben Billes Vater, fern des Elternhauses studierte und dafür Geld von seinen Eltern bekommen hatte – mit der Auflage, jede Woche einen Brief nach Hause zu schicken. Und genauso wird das bei Dir auch gewesen sein. Du unterschreibt Deine Briefe immer mit: Dein gehorsamer Sohn Detlof. Ob Fortunatus und Adele durch diese Briefe wirklich erfahren, wie es ihrem Sohn geht? Ich glaube kaum. Nirgendwo gibt es einen Hinweis darauf, was Du lernst, ob Du gute Profs hast, ob Du überzeugt bist oder Zweifel hast an dem, was Du da tust.
Lieber Vater. So schreibst Du im Februar 1905. Der Inhalt meiner letzten Briefe ist, fürchte ich, ziemlich langweilig geworden, weil es sich immer nur um Schnee und Eis handelte (ja, stimmt!) Jetzt wird es hoffentlich anders werden. Da bei dem prachtvollen Frühlingswetter, das hier jetzt herrscht, leider kaum noch auf Skifahren zu rechnen ist. Na, das kann ja spannend werden. Kommen jetzt endlose Beschreibungen grüner Wiesen?
Nein, es kommen Beschreibungen von Florenz. Im April fährst Du mit Mutter Adele dorthin. Neben der Menge an Kunstwerken beeindruckt Dich vor allem der Dreck in der Eisenbahn: Die Wagen zweiter Klasse sind von unglaublichem Schmutz und auch in der ersten Klasse sitzen hier manchmal Leute auf den großen Verkehrslinien, wie man sie bei uns höchstens in der Dritten finden würde. (…)Hier muss man sich genieren, in anständigem Anzug hinein zu steigen.
Großvater Detel, bei allem Respekt, aber ich bekomme doch den Eindruck, dass Du Dich als was Besseres fühlst. Zurück in Lausanne wechselst Du erstmal die Pension, denn in Deiner alten hast Du Dich gestört gefühlt: Ein kleiner Judenbengel, der neuerdings mit am Tisch saß, verdarb mir immer durch seinen Anblick und sein Fressen den ganzen Appetit.
Ich habe gehört, dass Du später ein Freund und Unterstützer der Juden gewesen bist. Dass Du sehr viel von ihnen gehalten hast, auch, weil sie meist gebildeter und kultivierter waren als ihre nicht-jüdischen Zeitgenossen. Was an ihrer Geschichte liegt und an ihrer Religion, in der zum Beispiel die Kenntnis der Schriftsprache viel mehr und viel früher gefördert wurde als in der christlichen. Das Wort „Judenbengel“ nehme ich dir also nicht übel, du hast es nicht böse gemeint.
Du hast ein unbeschwertes Leben in Lausanne. Du studierst ein wenig, streifst mit Freunden kreuz und quer durch die Berge, ab und zu bist Du in Berlin bei den Eltern, gehst dort zu Diners mit Hummer und Pfirsichbowle und spielst Tennis.
Im Sommer 1905 ist aber erst einmal Schluss mit diesem schönen Leben: Du sollst zum einjährigen Freiwilligen-Militär-Dienst.